Erfahrungswissen beim Mitarbeiter- oder Unternehmerwechsel transferieren

    26. Oktober 2016 von Steffen Doberstein, Klemens Keindl

    Erfahrungen sind ein wertvoller Schatz für jeden Menschen im Berufsleben, auch wenn sie nicht immer positiv sind. Das Gleiche gilt für dessen Arbeitgeber. Verlässt ein Mitarbeiter das Unternehmen, egal ob wegen Kündigung oder Krankheit, nimmt er diesen Schatz mit. Hat das Unternehmen nicht schon vorher Maßnahmen ergriffen, dass dieser Mitarbeiter sein Wissen (und damit auch seine Erfahrungen) regelmäßig weitergab, ist jetzt die letzte Chance es noch zu sichern. Doch wie?

    Kennen Sie diese Situationen?

    • Ein Mitarbeiter ist überraschend langfristig erkrankt. Der Vorgesetzte steht nun vor einem Problem. Niemand weiß so recht, wie die Arbeit des Mitarbeiters fortzuführen ist.
    • Ein Handwerksmeister hat einen Meisterbetrieb gekauft. Rechtlich ist alles geregelt, doch nun erfolgt die Übergabe … Wie kann er sicherstellen, dass er alle notwendigen Informationen erhält, um das Unternehmen erfolgreich weiterzuführen?

    Erfahrungswissen

    Erfahrungen basieren auf dem persönlich Erlebten. Ein ähnlicher Begriff ist „Learning by doing“ [1].  Durch Erfahrungen lernen wir die Erfolgswahrscheinlichkeit von Handlungen im Sinne von Lösungsansätze besser einzuschätzen, genau das meint denn auch in der Alltagssprache „Erfahrung“. Die Erfahrungen an sich kann man natürlich nicht transferieren, aber Lernen durch Erfahrung lässt Wissen im Menschen entstehen, welches sehr wohl zumindest zum Teil transferiert werden kann - so wie jedes andere Wissen auch, unabhängig von der Entstehungsart. Viel relevanter in diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung in explizites und implizites Wissen (siehe dazu "Was ist Wissensmanagement?" und Schlagworte implizites Wissen/ tacit knowledge auf der C-o-K). Denn diese Unterscheidung baut genau darauf aufs, dass implizites Wissen nur schwer zu transferieren (zu externalisieren) ist. Bei Erfahrungswissen können wir davon ausgehen, dass dort immer auch ein großer Anteil implizites Wissen enthalten ist. Typischerweise lernen wir im Alltag nicht intendiert, ja oft nehmen wir einen Lerneffekt gar nicht wahr. Selten werden Lerneffekte aus Erfahrungen dokumentiert und so stellt der Transfer von Erfahrungswissen zu anderen Personen stets eine Herausforderung dar. Je länger ein Mitarbeiter seine letzte Tätigkeit schon ausführt umso größer wird die Herausforderung. Denn man kann tendenziell von folgenden Effekten ausgehen:

    • mehr Erfahrungen bedeuten mehr Wissen
    • absolut und vermutlich auch relativ mehr implizites Wissen, weil ein größerer Anteil an Routinen ein bewusstes Reflektieren der Tätigkeit verringert
    • hoher Anteil länger zurück liegende Erfahrungen (Gefahr des Vergessens bzw. der Veränderung im Zeitablauf durch teilweises Vergessen)

    Abb. 1: Der Eisberg als Metapher für den Anteil des implizites Wissens
    Abb. 1: Der Eisberg als Metapher für den Anteil des implizites Wissens „unter der Oberfläche“ im Gegensatz zum expliziten Wissen "über der Oberfläche" (Quelle: pixabay.com)

    Anwendungsfälle für den Transfer von Erfahrungswissen

    Wissen (in den Köpfen vernetzte Information mit konkreten Schlussfolgerungen zu einem Anwendungsbezug / einer Aufgabe) kann nur auf zwei Wegen weitergegeben werden. Einmal kann der „Wissende“ Wissen (genau genommen Informationen) an andere Person(en) verbal bzw. schriftlich weitergeben, wir haben hier die klassische Sender – Empfänger – Situation. Damit kann explizites Wissen und auch ein Großteil des impliziten Wissens weitergegeben werden (Externalisierung). Nach allgemeiner Auffassung verbleibt jedoch immer implizites Wissen, welches nicht externalisierbar ist, dieses kann nur im Wege der Sozialisation (Näheres dazu unter den oben genannten Verlinkungen) weitergegeben werden. Letztlich verbleibt angesichts der absolut individuellen Wissensbasen basierend auf individuellen Erfahrungen, stets auch ein Rest an Wissen, welches nicht vermittelbar ist. Das ist keine Katastrophe. Auch die übertragenen Informationen werden vom Empfänger anders verarbeitet und bilden eine andere Wissensbasis als beim Sender. Eine 1:1-Kopie des Wissens ist anders als in der Informationstechnik beim Gehirn nun mal nach wie vor nur in Science Fiction-Filmen möglich. Man könnte auch sagen, „Wissen ist im Fluss“, es verändert sich stetig, auch mitten im Transfer.

    Infolgedessen wurden verschiedene Methoden entwickelt, um neben leicht explizierbarem auch implizites Wissen weiterzugeben. Gerade wenn es um die Einarbeitung geht, ist der Bedarf besonders groß. Als Beispiel seien Mentorenprogramme genannt. Je enger  der Kontakt zwischen Mentor und Mentee ist, umso mehr Erfahrungswissen kann  weitergegeben werden. Eine weitere bekannte Methode ist Nachfolger und Vorgänger eine Zeit lang gemeinsam arbeiten zu lassen.

    Daneben gibt es noch eine Menge anderer Methoden, um Wissen (auch implizites) auf mehrere Köpfe zu verteilen. Mit job rotation, gelebten (!) Stellvertreterreglungen, regelmäßiger Dokumentation und anderen Maßnahmen kann so schon vorab verhindert werden, dass sich Wissenssilos bilden, die im Extremfall aus einer Person bestehen. Voraussetzung ist, dass diese Maßnahmen regelmäßig stattfinden, was wiederum bedeutet, diese fest in Strukturen und Prozesse verankert sein müssen.

    Wann sind solche Maßnahmen besonders wichtig?

    • Wenig Dokumentation
    • Wenig Routine, sondern vielfältige sich wandelnde Aufgaben (z.B. Projektarbeit)
    • Solitäre Aufgaben, die nur ein Beschäftigter ausführt
    • Viele unterschiedliche Wissensgebiet (Generalisten) oder tiefe Spezialisierung
    • Stark vernetztes Aufgabengebiet, bei deren Inhaberwechsel viele betroffen sind (hohes Netzwerkwissen, ggf. Führungsaufgaben, viel Wissen zu historischen Zusammenhänge)

    Typische Beispiele sind:

    • Vertriebsmitarbeiter
    • Leitungsfunktionen, insbesondere Geschäftsführung (bzw. Unternehmensnachfolge)
    • Netzwerker, Querschnittsaufgaben
    • Spezialisten aus Forschungs- und Entwicklungsbereichen
    • Handwerkliche Fachkräfte  mit einem hohen Anteil an Wissen zur manuellen Ausführung von Arbeitsprozessen

    Doch was ist zu tun, wenn der Wechsel (eventuell auch überraschend) jetzt ansteht und das Wissen des ausscheidenden Mitarbeiters eine hohe Relevanz besitzt? Da bleiben nur Methoden, die direkt vor dem Wechsel eingesetzt werden können. Neben dem oben schon genannten längerem gemeinsamen arbeiten, das aber in den meisten Fällen zeitlich begrenzt ist, gibt es das "strukturierte Interview".

    Strukturiertes Interview für einen systematischen Wissenstransfer

    Der Wissenstransfer sollte einerseits das relevante Wissen möglichst vollständig übertragen, andererseits aber auch effizient sein. Folgende Anforderungen sollte ein Verfahren erfüllen:

    • relevantes Wissen des Senders identifizieren
    • dieses Wissen effizient (in kurzer Zeit) übertragen
    • Verständnis und Korrektheit der Informationen beim Empfänger sicherstellen
    • dauerhafte Zurverfügungstellung der Informationen für die Zeit nach der Übergabe

    Diese Anforderungen werden durch ein professionell geführtes strukturiertes Interview mit anschließender Dokumentation erfüllt. Die gemeinsame Entwicklung einer Struktur unterschiedlicher Wissensinhalte ist wichtig. Sie hilft sowohl dem Wissensgeber die Fülle an Erfahrungswissen zu ordnen, als auch dem Wissensempfänger diese Stück für Stück aufzunehmen.

    Das Vorgehen:

    1. Erarbeitung einer Grundstruktur und Prioritätensetzung
    2. Erfassung von Erfahrungswissen entlang einzelner Aufgaben (prozessbezogen)
    3. Überprüfung und Freigabe durch den Wissensgeber
    4. Einarbeitung durch einen Wissensempfänger
    5. Transferdialog entlang des dokumentierten Erfahrungswissens
    6. Ggf. Vertiefung durch gemeinsame Arbeitsschritte

    Wichtig ist, dass beide auf Augenhöhe agieren. Der Wissensgeber steht nicht über dem Wissensempfänger. Steht noch kein Nachfolger zur Verfügung, können auch Kollegen oder Vorgesetzte in diese Rolle schlüpfen.

    Eine Möglichkeit ist die Darstellung als Mindmap.

    Abb. 2: Die Visualisierung als MindMap hilft die Fülle an Wissen zu strukturieren
    Abb. 2: Die Visualisierung als MindMap hilft die Fülle an Wissen zu strukturieren (eigene Darstellung)

    Diese Methode ist auch sehr gut für die Übergabe eines Unternehmens als Kick off geeignet. Stellt sich beim Mitarbeiter die Frage, warum sollte der Vorgänger sein Wissen preisgeben? Das ist wohl die häufigste uns gestellte Frage. Machen die Mitarbeiter denn da mit? Eindeutige Antwort: "Ja." Schließlich erhält der Mitarbeiter Anerkennung durch diese Maßnahmen, hat der Chef also doch bemerkt welcher Wissensfundus sich über die Jahre angesammelt hat. „Es wird Geld ausgegeben, um mein Wissen zu sichern“, wenn das keine Wertschätzung ist! Es braucht wohl nicht betont zu werden, dass in einem Unternehmen mit einer Kultur der Angst oder wo es gerade einen Stellenabbau gibt solch ein Interview schnell zum Scheitern verurteilt ist. Eine grundlegende Demotivation hinsichtlich einer Aufgabe im Interesse des Arbeitgebers kann nicht nebenbei gekittet werden. Doch wie gesagt, üblicherweise, wenn es wenigstens eine halbwegs wertschätzende Kultur vor Ort gibt, sind die Erfahrungen durchweg positiv.

    Wo liegen dann die Herausforderungen?

    Im ersten Schritt, dem Interview, liegt die Herausforderung darin, dass Mitarbeiter selbst nicht wissen, was sie alles wissen. Sie stehen der Aufgabe anfangs oft skeptisch gegenüber, weil sie nicht sicher sind, wie viel sie beitragen können. So ein Aufwand und dann ein erwartetes mickriges Ergebnis? Das wäre für sie peinlich. Hier kommt es darauf, die Ängste ernst zu nehmen, dem Mitarbeiter Mut zu machen, ihn zu sensibilisieren, ja „die Augen zu öffnen“ für seine eigenes Wissen. Spätestens im Interview während sie so nach und nach in’s Reden kommen, merken sie, was sie Nachfolgern alles an Erfahrung mitgeben können.

    Das Gleiche gilt, wenn Mitarbeiter die Interviewsituation droht zu überfordern, wenn sie sich beispielsweise schwer tun im Reflektieren des eigenen Wissens und der Aufbereitung dessen für eine Weitergabe. Die Aufgabe des Interviewers ist es den Befragten an die Hand zu nehmen, das Interview möglichst niedrigschwellig durchzuführen. Dafür bedarf es durchaus Kreativität beim Interviewer. Da macht sich dann die Erfahrung des Interviewers bezahlt.

    Eine Herausforderung liegt auch im Schritt "Transferdialog" mit dem oder mit mehreren Wissensempfängern. Dies können der/die Nachfolger/in sein oder Kollegen und die Führungskraft, die solange Aufgaben übernehmen bis jemand als Nachfolger die Stelle antreten kann. Der Transferdialog ist umso fruchtbarer, je aktiver die Wissensempfänger dabei agieren. Der Interviewer sorgt dabei dafür, dass das Gespräch auf Augenhöhe stattfindet und der, respektive die, Wissensempfänger zu Fragen und expliziten Schlussfolgerungen geführt wird. Nur so kann gesichert werden, dass Erfahrungswissen des Wissensgebers auch in dem bestehenden Erfahrungsschatz des Neuen verankert werden kann.

    Nutzen

    In Evaluationsfragen nach einem Wissenstransfer berichten Vorgesetzte wie Nachfolger von folgenden teilweise messbaren Ergebnissen: Nachfolger sind schneller selbstständig arbeitsfähig, Fehler und hohe Anfangsbelastungen sind deutlich reduziert, Nachfolger gehen mit sehr viel Motivation an ihre neuen Aufgaben ran.

    Auch die Führungskräfte der interviewten Personen lernen in einem solchen Projekt. Es kommt durchaus vor, dass diese erstaunt sind über den Aufgabenumfang ihrer Mitarbeiter oder mit welchen Problemen sie in der täglichen Arbeit zu kämpfen haben. Der Blick für die internen Prozesse wird noch einmal geschärft.

    Darüber hinaus zeigt sich immer auch ein weiterer direkter Nutzen auf der organisatorischen Ebene. Das gesamte Team hat erlebt, dass Mitarbeiter, die – oft nach vielen Jahren – gehen, mehr bekommen als einen kurzen Händedruck. Durch den strukturierten Wissenstransfer entsteht eine Verabschiedungskultur, deren Wertschätzung auch mithelfen kann, den kontinuierlichen Wissensaustausch im Team zu fördern. Die Berechnung in Euro ist aber, wie sonst auch im Wissensmanagement, oft schwierig. Denn wer kann schon die Wirkung von Motivation berechnen?

    Quelle

    [1] Steinmann/Schreyögg, Management, 3. Aufl. 1993, S. 449

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