Das Wissen der Bürger nutzen – Chancen für soziale Organisationen

    03. März 2011 von Dr. Brigitte Reiser

    Professionelle soziale Dienstleister wie die über hunderttausend Sozialeinrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege stehen vor einem Dilemma. Einerseits wird ihnen Effizienz abverlangt, andererseits haben sie als Einrichtungen des Dritten Sektors zwischen Markt und Staat wichtige gemeinwesenorientierte Funktionen, die mit der Effizienzperspektive nur schwer bewältigt werden können: nämlich Menschen in die Gesellschaft zu integrieren und ihnen Beteiligungsmöglichkeiten zu bieten. Beziehungen hin zur Zivilgesellschaft zu pflegen ist für gemeinnützige Organisationen aufwändig. Dennoch wird gerade die „social embeddedness“ von Nonprofit-Organisationen (NPO) in das sie umgebende Gemeinwesen in Zukunft ein wichtiger Teil ihres Profils und ein wichtiges Unterscheidungskriterium hin zur gewerblichen Konkurrenz sein.

    Die Verbindungen zur Zivilgesellschaft sind für Nonprofit-Organisationen soziales Kapital, aus dem sie Ressourcen gewinnen können. Angesichts der staatlichen Spar- und Budgetierungspolitik müssen NPOs stärker auf den Input der Bürger setzen. Nicht nur auf deren Spenden und Mitarbeit, sondern auch auf das Bürger-Wissen, das für eine Verbesserung sozialer Dienste genutzt werden kann.

    Warum sollten gemeinnützige Organisationen speziell ihre konzeptionellen Prozesse für das Wissen und die Ideen von Bürgern öffnen? Weil ihr eigenes organisationsinternes Wissen – obwohl reich an jahrzehntelanger Erfahrung - nur Stückwerk ist. Es basiert auf dem Wissen der Profession und bindet die Erfahrungen der Nutzer, ihr Feedback, ihre Anregungen und Wünsche nicht systematisch ein. Dabei zeigen Forschungsergebnisse, dass „Interventionen desto zielgenauer, zeitstabiler und wirksamer sind, je mehr Partizipation es gibt, und zwar auf allen Stufen: der der Problemdefinition, der Programmformulierung, der Durchführung und der Qualitätssicherung bzw. der Evaluation.“ (Rosenbrock 2010, 11). Der Mehrwert sozialer Dienstleistungen wächst, wenn Mitarbeiter und Nutzer von sozialen Diensten und alle anderen davon berührten Stakeholder ihr Wissen poolen, um gemeinsam nach Lösungen für vorhandene Bedarfe zu suchen. Der Partizipation gehört die Zukunft – auch wenn der Sozialsektor derzeit noch durch eine starke Zentralisierung von Inhalten und Verfahren gekennzeichnet ist.

    Wie können gemeinnützige Organisationen das Wissen von Bürgern abrufen? Immer häufiger geschieht dies über das Internet. Projekte wie die Webkarte GENEVE accessible oder die Kartierungsprojekte von Ushahidi (Beispiel: Chile-Erdbeben) im Katastrophenfall zeigen, wie wichtig das Wissen von Nutzern ist und wie gut NPOs dieses verwenden können.

    Bürger-Wissen kann auch im Rahmen von Wikis online gesammelt werden (Beispiel: PflegeWiki). Entsprechende Wiki-Wissenssammlungen ermöglichen es einer NPO, das Wissen von Ehrenamtlichen und Mitarbeitern zu erhalten, um so die negativen Folgen der Freiwilligen – und Mitarbeiterfluktuation abzumildern.

    Das Feedback von Nutzern sozialer Dienste, der Grad ihrer Zufriedenheit mit den erhaltenen Leistungen, kann ebenfalls über das Internet abgefragt werden (Beispiel: Patient Opinion).

    Online-Communities erlauben den Wissensaustausch zwischen der NPO und ihren Nutzern oder zwischen den Nutzern untereinander, - zugunsten neuer Ideen und Unterstützungsmöglichkeiten für die gemeinnützige Organisation (Beispiel: GreenAction).

    Die Grenzen von Online-Tools für Bürgerpartizipation liegen darin, dass sie zumeist von jenen genutzt werden, die ohnehin schon zu den Aktiveren zählen, d.h. passive und stumme Bürger melden sich in der Regel auch online nicht zu Wort (Kavanaugh u.a. 2008).

    In jedem Fall setzt die Partizipation der Bürger über das Internet responsive Organisationen voraus, die bereit sind, ihren Stakeholdern zuzuhören und deren Ideen und Wissen aufzugreifen. Wo die Bereitschaft zum Dialog nicht vorhanden ist, weil Entscheidungen zentral gefällt werden und an der Superiorität von professionellem Wissen festgehalten wird, laufen die Potentiale des Internets und der Partizipation ins Leere.

    Es geht im Moment in erster Linie darum, sozialen Organisationen den Nutzen des Bürger-Wissens aufzuzeigen und sie für mehr Bürgerbeteiligung zu erwärmen.

    Wie können gemeinnützige Einrichtungen vom Bürger-Wissen profitieren?

    In Jason Corburns “Street Science” (2005) finden sich einige Gedanken hierzu. Das Wissen der Bürger

    • bringt die Pluralität der Perspektiven und Werte in unserer Gesellschaft zum Ausdruck und erweitert fachliche Ansätze in gemeinnützigen Einrichtungen um diese Pluralität
    • ergänzt das Fachwissen um wichtige lokale empirische Erfahrungen bzw. Daten
    • beinhaltet auch die Perspektive von schwer erreichbaren Gruppen, über die kein oder zu wenig professionelles Wissen vorliegt
    • zeigt neue Wege für die Umsetzung von Maßnahmen auf
    • verbessert den Erfolg von Maßnahmen, weil das Feedback von Bürgern in die Programm-Konzeption schon einfließt.
    • Wenn eine Einrichtung das Wissen der Bürger ernst nimmt, wächst das Vertrauen der Zivilgesellschaft in die Einrichtung und vergrößert sich deren Legitimität

    (Corburn 2005).

    Eine gute Möglichkeit, das Wissen und die Ideen der Bürger kennenzulernen, ist das BarCamp-Format, das auch im Sozialbereich stärker zur Anwendung kommen könnte (Beispiel: SocialCamp, Social Innovation Camp).

    Wie Bürger-Wissen zugunsten gemeinnütziger Organisationen gesammelt werden kann, zeigt auch das ehrenamtliche Projekt der NPO-Blogparade, bei der BloggerInnen ihr Wissen über NPOs zusammentragen. Das Thema „Wissensmanagement in Nonprofits mit Social Media“ wurde in diesem Rahmen auch schon behandelt. Die Ergebnisse dieser Blogparaden-Runde finden Sie hier.

    Literatur:

    Corburn, Jason (2005): Street Science, Cambridge/London: MIT-Press.

    Kavanaugh, Andrea/Kim, B. Joon u.a (2008): Net gains in political participation, in: Information, Communication & Society, vol. 11, No. 7.

    Rosenbrock, Rolf (2010): Partizipative Qualitätsentwicklung – um was geht es?, in: Wright, Michael T. (Hrsg): Partizipative Qualitätsentwicklung, Bern: Huber

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