Besonderheiten von Wissensmanagement im Öffentlichen Sektor

    19. Dezember 2004 von Dr. Harald Voigt

    Während in der Wirtschaft Wissensmanagement seit Jahren erfolgreich genutzt wird, gewinnt das Thema im öffentlichen Sektor noch stetig an Aufmerksamkeit. Im Artikel werden Nutzenpotenziale und Rahmenbedingungen für Wissensmanagement sowie eine geeignete Projektvorgehensweise dargestellt. Dabei wird besonders auf die Spezifika des öffentlichen Sektors eingegangen.

    Einleitung

    Im privatwirtschaftlichen Sektor hilft Wissensmanagement seit mehr als einer Dekade Unternehmen, unter den Bedingungen der sich entwickelnden Informations- und Wissensgesellschaft erfolgreich zu sein. Die positive Entwicklung dieser Disziplin ist u.a. ablesbar an der Menge der Veröffentlichungen, an der Etablierung in Lehre und Forschung, an einer Vielzahl von Einführungsprojekten und der Einrichtung von spezifischen Prozessen und Rollen in Unternehmen.

    Im öffentlichen Sektor gewinnt Wissensmanagement in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung, wie u.a. folgende Beispiele zeigen: Der Wettbewerb "Wissensmedia" des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (BMWA) fördert Projekte zum Wissensmanagement in Mittelstand und Verwaltungen (www.wissensmedia.de). Im Rahmen der eGovernment-Initiative "BundOnline" der Bundesregierung wurde ein Wissensmanagement aufgebaut, um das entstandene Wissen schnellstmöglich aufzubereiten und der Zielgruppe zur Verfügung zu stellen. Hierdurch soll die Umsetzung beschleunigt und das gesammelte Wissen zu einer steileren Lernkurve beitragen (www.wms.bundonline.bund.de).

    Die Verwendung des Begriffs "Wissensmanagement" ist im allgemeinen Sprachgebrauch sowie auch in Fachkreisen nicht einheitlich. Für unsere Zwecke hat sich ein ganzheitlicher Begriff von "Wissen" und "Wissensmanagement" bewährt: Unter "Wissen" verstehen wir im Anschluss an die Definition von Probst et al. "die Gesamtheit der Kenntnisse und Fähigkeiten, die Individuen zur Lösung von Problemen einsetzen", unter "Wissensmanagement" die systematische Nutzung von Wissen als Ressource zur Umsetzung der Organisationsziele. Dabei sind im Wissensmanagement die Dimensionen von Inhalts- und Strukturebene, der Prozess- und Organisationsfragen, der Nutzung geeigneter Technologie sowie der Motive und Handlungsformen der (wissenden) Menschen gleichermaßen zu betrachten.

    In diesem Beitrag betrachten wir Nutzenpotenziale und Rahmenbedingungen des Wissensmanagements im öffentlichen Sektor mit dem Ziel, nach Möglichkeiten und Bedingungen eines erfolgreichen Transfers der vorhandenen Erfahrungen aus der Wirtschaft zu suchen. Bei der Vielfalt des öffentlichen Sektors mit seinen über 4,5 Mio. Beschäftigten in Tausenden von öffentlichen Einrichtungen versteht es sich von selbst, dass wir an dieser Stelle nur einen Rahmen aufzeigen können, Ausgestaltung und Nutzen aber für jede Institution individuell zu prüfen sind.

    Nutzenpotenziale von Wissensmanagement im öffentlichen Sektor

    Es gibt vier Hautpfelder, in denen Wissensmanagement Nutzen erzeugen kann: Kosten, Zeit, Qualität der Leistungen und Produkte, sowie Risiko. Die wichtigsten Nutzenpotenziale in der Wirtschaft entstehen durch den strategischen Aufbau von Wissen, durch die effiziente Beschaffung und Bereitstellung von Informationen, die verbesserte Nutzung vorhandener Erfahrungen und Kompetenzen, schnellere Innovationsprozesse sowie durch ein effektiveres Risikomanagement. Wissensquellen werden über regionale und funktionale Grenzen hinweg zusammengeführt und neue Formen von Zusammenarbeit unterstützt.

    Die Betrachtung der Nutzenpotenziale für den öffentlichen Sektor zeigt eine Vielzahl von Überschneidungen, die einen direkten Transfer von Best Practices nahe legen. Dabei ist allerdings ein genauer Blick auf die jeweiligen spezifischen Rahmenbedingungen erfolgskritisch (dazu später mehr). Zunächst betrachten wir kurz die wichtigsten Nutzenpotenziale von Wissensmanagement im öffentlichen Sektor.

    Kosteneinsparungen sind im öffentlichen Sektor unbestritten von hoher Bedeutung, bilden allerdings eher eine Rahmenbedingung, während durch Einsparungen in der Wirtschaft das hochstehende Unternehmensziel "Gewinn" direkt beeinflusst wird. Die Vermeidung von Doppelarbeiten, aber auch Effizienz im Umgang mit Wissen und Informationen (direkter Zugriff auf relevante Daten) können aber auch im öffentlichen Sektor relevant werden für die Erzielung von Einnahmen, z.B. durch effizientere und dadurch bei gleicher Kapazität tiefergehende Prüfungs- und Genehmigungsverfahren (Steuerprüfungen, Förderanträge etc.), oder für die korrekte Festsetzung von Transferleistungen.

    Die für Prozesse erforderliche Zeit zu reduzieren, ist nicht nur eine Frage der Wirtschaftlichkeit, sondern oft genug auch der Sicherheit, oder auch praktischer Gerechtigkeit, etwa bei der Verjährung von Straftaten, Ansprüchen oder zeitlichen Vorgaben. Beschleunigung von Prozessen kann daher aus mehreren Gründen ein wichtiges Ziel sein, zu dem Wissensmanagement beitragen kann.

    Die Belastbarkeit von Auskünften und Entscheidungen ist - neben der Geschwindigkeit - ein wichtiges Anliegen der Unternehmen und einzelnen Bürger. Sie betrachten und beurteilen den öffentlichen Sektor zunehmend als Dienstleister und legen entsprechende Maßstäbe an. Eine effektive Nutzung von Informationsquellen kann die Qualität von Entscheidungen und Prozessen verbessern. Neben der Informations- und Wissensbereitstellung und -nutzung gewinnt auch die Qualität der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Bereichen des öffentlichen Sektors an Bedeutung, bspw. im Bereich der Sicherheit. Bei Aufbau und Einsatz von Projektteams, Netzwerken und Kooperationen und im darauf ausgerichteten Wissensmanagement gibt es im privatwirtschaftlichen Sektor einen Erfahrungsvorsprung, von dem der öffentliche Sektor profitieren kann.

    Ein strategischer Wissensaufbau wird im öffentlichen Bereich weniger zur Innovationsförderung und Entwicklung strategischer Kompetenzen erforderlich sein (auch hier gibt es Ausnahmen, etwa bei der Entwicklung von technischen Prüfverfahren), aber die Darstellung von Kompetenz in innovativen Umfeldern ist eine Notwendigkeit für Politik und staatliches Handeln (Sicherheit in der Informationstechnologie, Gentechnik, etc.). Das systematische Erfassen und Auswerten wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen ist damit Voraussetzung für erfolgreiches politisches und Verwaltungshandeln.

    Eine gesonderte Betrachtung der Nutzendimension Risikoprävention ist insbesondere bei Institutionen berechtigt, die mit Schutzaufgaben betraut sind (bspw. Polizei, Nachrichtendienste, aber auch Verbraucherschutz oder Materialprüfung). Die Anforderung, jegliches Risiko frühzeitig zu identifizieren und angemessen darauf zu reagieren, erfordert eine kontinuierliche Sichtung und Relevanzeinschätzung sehr großer Informationsmengen, die einerseits nur automatisiert umsetzbar ist, andererseits aber ihre Bedeutung nur durch menschliches Bewerten, Entscheiden und Handeln gewinnen kann. Es handelt sich also um ein Anwendungsgebiet ganzheitlichen Wissensmanagements par excellence.

    Projekte zur Realisierung der genannten Nutzenpotenziale sind im öffentlichen Sektor oft unter Einschränkungen umzusetzen, die ihrerseits durch den Einsatz von Wissensmanagement erleichtert werden können:

    • Kostendruck
    • Personalabbau und -wechsel (bedingt u.a. durch Verwaltungsreform, Ausscheiden von Mitarbeitern)
    • Komplexitätssteigerungen durch wachsenden Umfang rechtlicher Grundlagen, neuer Technologien und Wissensgebiete mit Relevanz für das Verwaltungshandeln (IT, Gentechnik, etc.)
    • Informations- und Kommunikationsflut durch neue Medien und Technologien (Internet, eMail etc.)
    • Wachsende Anforderungen an die Dienstleistungsqualität des öffentlichen Sektors (Standortdiskussion, direkte Ansprüche von Unternehmen und Bürgern)
    • Laufende Änderungen von Organisation und Prozessen im öffentlichen Sektor (eGovernment, Verwaltungsreformen)

    Im öffentlichen Sektor müssen also wachsende Anforderungen unter zunehmend erschwerten Randbedingungen parallel zu aktuellen Veränderungsprozessen erfüllt werden. Unter diesen Bedingungen kann jeder Optimierungsansatz - so auch Wissensmanagement - nur dann Aufnahme finden, wenn das Nutzenpotenzial überzeugt, wenn es keine Konflikte mit anderen Veränderungsprozessen gibt, und wenn kurzfristig eine Entlastung von Ressourcen geschaffen wird.

    Rahmenbedingungen für Wissensmanagement im öffentlichen Sektor

    In den ausgeprägten Strukturen, Regeln und Prozessen (bspw. Geschäftsordnungen) der Institutionen des öffentlichen Sektors zeigt sich eine hohe organisationale Intelligenz; Die Organisationen sollen zum einen möglichst unabhängig von Motiven, Ideen und Qualitäten ihrer Mitarbeiter funktionieren, zum anderen wurden die Kernprozesse bereits über lange Zeiträume optimiert (Beispiel: Umgang mit Papierakten bei Zeichnungsprozessen). Neben der Sicherung gleichmäßiger und gleichbleibender Qualität wird somit eine hohe Kontinuität bei Funktionswechseln bzw. Ausscheiden von Mitarbeitern erreicht. Die Kehrseite der Medaille: Verwaltungs-"apparate" gelten wegen der festgelegten Aufgaben und Prozesse als starr und unflexibel, das Potenzial, das in den individuellen Fähigkeiten und Ideen der Beschäftigten steckt, wird nicht intensiv genutzt, weil dadurch die sicheren Strukturen in Frage gestellt werden könnten.

    Während zu den Zielen des Wissensmanagements in der Wirtschaft gehört, Innovationen und Veränderungen zu treiben und in neue Geschäftsideen umzusetzen, ist der Spielraum zur Ausweitung staatlicher Aufgaben begrenzt, die Erfüllung gesetzlich gegebener Aufgaben steht im Vordergrund. Andererseits führen bspw. beschleunigte technische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen auch fortlaufend zu neuen Aufgaben, zu denen kurzfristig Kompetenz aufgebaut und deren Bearbeitung organisiert werden muss.

    Bei der Übertragung von Wissensmanagementansätzen auf den öffentlichen Sektor ist daher sehr genau zu prüfen, wie das Verhältnis zwischen Individuum und Organisation jeweils gedacht ist, und welchen Stellenwert Kontinuität und Stabilität bzw. Flexibilität haben. Diese (u.a.) kulturellen Faktoren sind zu berücksichtigen bei der Formulierung von Wissenszielen und bei der Ausgestaltung des Wissensmanagements. Oftmals wird der Eingriff in die bestehenden Strukturen, Prozesse sowie die Organisationskultur größer sein als in vergleichbaren Wissensmanagementanwendungen in der Wirtschaft. Die Übertragung von Best Practices aus der Wirtschaft in den öffentlichen Sektor wird dadurch erheblich verkompliziert

    Vorgehensweise bei Wissensmanagementprojekten im öffentlichen Sektor

    Wissensmanagementprojekte müssen stets zwei Sichtweisen gleichzeitig berücksichtigen: Einerseits die strategische Ausrichtung der Organisation und die frühzeitige Orientierung an Nutzenpotenzialen, aus denen Wissensziele abgeleitet werden können. Darauf aufbauend können Konzepte für Zielprozesse und -organisation sowie das technische Konzept erstellt werden.

    Andererseits ist - wie für alle Projekte, die mit tiefgreifenden Organisationsveränderungen verbunden sind - eine frühzeitige Einbeziehung der Mitarbeiter in die Diskussion und Ausgestaltung der Zukunftsorganisation ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Projekte, in denen über die Mitarbeiter hinweg Konzepte entwickelt und Systeme eingeführt werden, schaffen weder die erforderliche Akzeptanz noch das für gelebte Wissensteilung notwendige Vertrauen. Erfolgreiche Wissensmanagementeinführungen berücksichtigen diese parallelen Anforderungen, indem sie frühzeitig einen Dialog über Ziele, Szenarien und Prototypen vorsehen. Dabei werden relevante Fragen, Probleme und Zusammenhänge zu anderen Themenbereichen offengelegt, die zu beachten sind und ggfs. im Projektrahmen bearbeitet werden müssen.

    Folgender Ablauf erfüllt die genannten Aufgaben:

    1. Bestandsaufnahme der aktuellen Wissensprozesse und -strukturen in Interviews, Workshops und durch Begutachtung der Informationssysteme
    2. Identifikation von Handlungsfeldern und Potenzialanalyse
    3. Strategieprozess mit Bestimmung der Wissensziele und der Abhängigkeiten zu anderen Themenfeldern und Prozessen
    4. Bestimmung von Wissensbedarf und Anforderungen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen
    5. Konzeptionsphase im Verbund mit Erarbeitung und Vorstellung von Prototypen und Prozessszenarien zur Konzeptabstimmung. Ergebnis ist ein abgestimmtes und mit Prototypen und Einsatzszenarien unterlegtes Konzept, das Wissensfelder und Taxonomie, Prozesse und Organisation, Technologie und kulturelle Faktoren beschreibt und miteinander verbindet.
    6. Einführung (zunächst in Pilotbereichen, mit Auswertung der Erfahrungen und ggfs. Konzeptfortschreibung)
    7. Evaluation und Fortschreibung des Wissensmanagements in einem etablierten und fortlaufenden Prozess.

    Da die in der Organisation bereits vorhandene Erfahrung und Kultur im Umgang mit Projekten und Optimierungsprozessen die Erwartungen prägt, müssen Wissensmanagementprojekte sich darauf individuell einstellen. Idealerweise wird Wissensmanagement daher auch schon während der Einführung neuer Prozesse und Systeme genutzt und "gelebt", um den Transformationsprozess zu fördern und Entlastung im Tagesgeschäft zu schaffen. Wenn der Sprung von der bestehenden zur angestrebten Wissensorganisation zu groß ist, bietet es sich an, das Wissensmanagementprojekt als Prozess anzulegen, der von einer Roadmap geleitet wird, die konkreten Schritte aber auf die Entwicklungsgeschwindigkeit der Organisation abstimmt. Eine dialogorientierte Kommunikation im Projekt ist daher wichtig für die Projektsteuerung.

    Wie im Bereich der Wirtschaft auch verbieten sich Patentrezepte für das Wissensmanagement im öffentlichen Sektor; dafür sind die Unterschiede zwischen den Anforderungen und den Rahmenbedingungen der verschiedenen Einrichtungen zu unterschiedlich. Um den Ausbau von Wissensmanagement im öffentlichen Sektor zu fördern, bieten sich auf der Bundes- und Landesebene, u.U. auch für größere Kommunen, folgende Maßnahmen an:

    • der Aufbau von Netzwerken von Wissensmanagementpraktikern im öffentlichen Sektor als Communities of Practice mit einer Infrastruktur, die Austausch und verteiltes Arbeiten unterstützt;
    • ein Projektmarketing für erfolgreiche Wissensmanagementprojekte;
    • der Aufbau von Competence Centern, die kurzfristig Hilfestellung leisten, aber auch eine begleitende Beratung von Projekten durch erfahrene Experten leisten können.

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