Wissensmanagement in der Bundeswehr – ein Werkstattbericht

    14. Oktober 2009 von Dr. Christoph Hartl

    Die Bundeswehr befindet sich derzeit in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess der mit dem Schlagwort „Transformation“ umschrieben ist. Hierbei ist Wissensmanagement ein Instrument, das der Bundeswehr hilft, die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für die Verfügbarkeit individuellen Wissens in der Organisation zu schaffen und zu gestalten. Der vorliegende Artikel hat zum Ziel, einen Sachstand zur Bedeutung von Wissensmanagement in der Bundeswehr darzustellen, Entwicklungslinien nachzuzeichnen, sowie einen Blick in die Zukunft zu wagen.

    Wissen und Informationen gewinnen vor dem Hintergrund zum Teil rasanter gesellschaftlicher Veränderungen auch in der Bundeswehr – als Spiegelbild der Gesellschaft – eine immer größere Bedeutung. Über die Bundeswehr als Ganzes Aussagen zu treffen ist dabei eine große Herausforderung. Was sich aus der Außensicht als homogenes Gebilde darstellt, spaltet sich sehr schnell in Einzelbereiche mit weiterer Untergliederung auf, die in der Deutung und Ausgestaltung von Themenfeldern gewollt oder tatsächlich Autonomien besitzen, die sich in manchmal undurchsichtigen Abstimmungsprozessen zu einheitlichen Betrachtungen und Vorgehen zusammenraufen – oder eben nicht. Zunächst sei hier zwischen dem militärischen Bereich, den Streitkräften, und der zivilen Wehrverwaltung ganz grob unterschieden. Ersterer soll im Mittelpunkt der Ausführungen stehen. Darüber hinaus wollen wir weiter zwischen den Teilstreitkräften Heer, Luftwaffe und Marine sowie zwischen den Organisationsbereichen Streitkräftebasis und Zentralem Sanitätsdienst differenzieren.

    Führung und Management

    Der Begriff Wissensmanagement besteht aus den beiden Wörtern Wissen und Management. Während bei der Bundeswehr großes Augenmerk auf das Wissen gelegt wird, so zeigt sich, dass insbesondere der Managementteil zu einem Problem bei der Übernahme von Gedankengängen, Konzepten und Methoden aus den Wirtschaftswissenschaften führt. Da es sich um ein Problemfeld handelt, das auch aber nicht nur für das Wissensmanagement zutrifft soll die Diskussion – so notwendig sie wäre – an dieser Stelle ein paar gedankliche Skizzen nicht übersteigen. Drei Verben spannen den Tätigkeitsraum des militärischen Vorgesetzten auf: führen, erziehen und ausbilden. Die Feststellung, dass wir hierbei nichts von Managen finden, mag trivial sein. Dass wir ohne größere Probleme eine Verwandtschaft zwischen militärischem Vorgehen und Managementlehre finden, lässt uns dazu neigen, Lösungsansätze aus dem einen Bereich in den anderen zu übertragen. Während der Weg aus dem Militär in das Management sich über die Jahrzehnte entwickelt hat, drängen nun die erwachsen gewordenen Kinder zurück zu ihren Wurzeln. Es bleibt häufig ein komisches Grummeln im Untergrund, ein Fader Beigeschmack, weil Andockpunkte nicht gegeben sind, weil „so ähnlich“ oftmals eben auch „knapp daneben“ und somit letztlich „vorbei“ bedeutet.

    Ein Blick in die Historie

    Das Thema Wissensmanagement tauchte zu Beginn des Jahrtausends in Umfeld der Führungsakademie der Bundeswehr sowie in der Marine auf und hielt sich in der Folgezeit in einer sich über Mundpropaganda zusammenfindenden inoffiziellen Arbeitsgruppe  mit Vertretern dann auch von Luftwaffe und der Streitkräftebasis. Es war eine Comunity of Interest, die vom Verständnis der Vorgesetzten der Mitglieder lebte, die bereit waren, das Thema für die Bundeswehr andiskutieren zu lassen. Der Sprung auf die Agenda tatsächlicher Entscheidungsträger, konzertierte Aktionen, blieben dem lose organisierten Gremium jedoch verwehrt. Zumal sich etwa zeitgleich ein weiterer Interessenverbund zu formieren begann, der sich mit dem Thema Informationsmanagement beschäftigte und fortan mit den Wissensmanagern um begrenzte Ressourcen – insbesondere Aufmerksamkeit – zu buhlen begann. Die Konkurrenz, die damit verbundene gefühlte Notwendigkeit, sich abgrenzen zu müssen, führten zu einer bisweilen sehr extremen Humanorientierung des Wissensmanagementverständnisses der Arbeitsgruppe, gleichzeitig gewann die Diskussion an Abstraktheit, si konzentrierte sich zunehmend auf Definitionen und Modelle. Der vollständige Rückzug aus der IT, quasi als argumentativ roter Grenzlinie zu den Informationsmanagern, erfüllte zwar den Wunsch nach klarer Abgrenzung, überließ dem „Gegner“ jedoch eine prall gefüllte Kiste, um eindrucksvolle Verbesserungsmöglichkeiten zu präsentieren. Der Männeranteil in der Bundeswehr ist naturgemäß sehr groß – und Jungs lieben nun einmal Technikspielzeug. Dass man sich inzwischen stärker auf gemeinsame Anliegen konzentriert und in den jeweiligen Schwerpunktsetzungen und Nuancierungen Chancen erkennt, lässt hoffnungsvoll auf den Weg der Bundeswehr in die Informations- und Wissensgesellschaft blicken.

    Die Spannungsfelder des Wissensmanagements

    Trotz einer positiven Grundeinstellung ist das Wissensmanagement derzeit noch gefangen in einer Art Bermudadreieck an scheinbaren, vielleicht auch tatsächlichen, Widersprüchen. Eine Ecke bildet dabei das Erbe der Auseinandersetzungen mit den Informationsmanagern und dem Wunsch nach „nichttechnischer Technisierung“. Es ist vermutlich die einfachste zu überwindende Grenze. Der Nutzen, der aus den Entwicklungen der Informationstechnik erwächst, ist nun einmal auch für das Wissensmanagement nicht von der Hand zu weisen. Und mit dem Experimentversuch eines bundeswehrweiten Wikis ist man derzeit bereits auf dem besten Wege, die argumentative Paradoxie aufzulösen, sich von der extremen Humanorientierung zu gemäßigteren Positionen zu bewegen, die Brücke zum Knowledge Engineering zu schlagen. Dies ist ein unerlässlicher Schritt, will man die Herausforderungen, die mit der neuen Vernetzten Operationsführung erwachsen, auch aus der Sicht des Wissensmanagements begegnen können.

    Ecke Nummer zwei sieht das Wissensmanagement in der Rolle als „Bewahrer und Innovator“ zugleich. Dabei geht es gar nicht einmal primär um die Frage: Welches Wissen sollen wir bewahren, welches neu generieren? Es geht darum, diejenigen, die im Wissensmanagement bzw. seinen wahrnehmbaren methodischen Früchten bereits vorhandene Ansätze innerhalb der Bundeswehr wiedererkennen, ebenso darin zu bestärken, den Weg fortzusetzen, wie auch die neue Qualität herauszustellen, die ein Wissensmanagement rechtfertigt. Und auch auf der dann weit weniger konkreten Ebene der Organisationskultur gilt es sorgfältig zu analysieren, wo sich sinnvoll an bereits Bestehendes anknüpfen lässt, wo die Wissensperspektive stärker herauszuarbeiten ist, wo sie soldatische Notwendigkeiten des Einsatzes unterstützen kann, wo ggf. Konflikte bestehen und das Wissen zurückstehen muss, um Übergeordnetes nicht zu gefährden.

    In der dritten Ecke stehen sich Individuum und Organisation gegenüber. Letztere ist dabei derzeit in der schwächeren Rolle. Zum einen spielen organisationstheoretische Aspekte in der Bundeswehr generell – auch im Rahmen der Transformation – eine untergeordnete Rolle. Das klammert Fragestellungen rund um die Notwendigkeit organisationaler Veränderung, um das Wissen besser zur Geltung kommen zu lassen, nahezu komplett aus. Zum anderen führen die Verortung von Wissen in der Person sowie die Interpretation des Themas Wissensmanagement als Träger einer stärkeren Demokratisierung zu einer Art Reflex, der das Individuum vor der Organisation beschützen muss. So steht bei der Beurteilung von Maßnahmen schnell die Frage im Raum, welcher Nutzen sofort und unmittelbar dem Einzelnen erwächst.

    Erste Schritte in der Bundeswehr

    Als Konsequenz des Untergrunddaseins der Wissensmanagement Community tastet sich die methodische Umsetzung langsam und zumeist „experimentell“ vorwärts. Da gelingt dem Einen die Implementierung von Yellow Pages in seiner Dienststelle, da leistet ein Anderer bei sich Überzeugungsarbeit mit Mikroartikeln. Für das Thema lassen sich die Leute eher schnell gewinnen, bei konkreten Maßnahmen reagieren sie dann doch zumeist skeptisch und abwartend. Methoden wie Open Space, World Café oder die Syntegration versprechen zwar genau an den Problemfeldern anzusetzen, die gerade in der Ämterebene häufig zu identifizieren sind, doch die Abläufe von Sitzungen und Besprechungen sind ritualisiert und die Angst, sich der Lächerlichkeit preiszugeben ist nicht von der Hand zu weisen. Daher bleiben sie derzeit noch Randerscheinungen. Mit dem in Zusammenarbeit mit der Universität der Bundeswehr München entwickelten Leitfaden zum Abbau von Wissensbarrieren steht jedoch ein praxistaugliches Instrument zur Verfügung, das neben der Analyse auch konkrete Handlungsempfehlungen ermöglicht.

    Umso ermutigender ist ein bundeswehrweiter Web 2.0 Ansatz, der seit März 2009 das Wiki-Prinzip in klassisch hierarchisch geprägter Umgebung experimentiert. Nach einem Jahr wird sich dann zeigen, ob und inwieweit die Bundeswehr geeignet und bereit ist für den Informationsaustausch jenseits offizieller Weisungen, Vorschriften, Zuständigkeiten oder Federführern. Es ist vor allem auch erfreulich, dass der tiefe Graben zur Abteilung „Technik“ wieder etwas zugeschüttet wird.

    Gute Voraussetzungen

    Der Boden für Wissensmanagement ist durchaus fruchtbar bei der Bundeswehr. Dass das Wissen der Soldatinnen und Soldaten von großem Wert ist, erzeugt in weiten Kreisen schon lange kein ungläubiges Kopfschütteln oder gleichgültiges Achselzucken mehr. Und das mit ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. Da sind auf der einen Seite die zahlreichen Bürojobber, die sich als Wissensarbeiter geadelt fühlen und die Bedeutung ihrer Gedankengänge bestätigt sehen. Da sind auf der anderen Seite aber auch die dem soldatischen Kerngeschäft Nahestehenden, denen es darum geht, nicht nur Informations- sondern vielleicht sogar Wissensüberlegenheit über den Gegner zu erlangen und hieraus konkrete Vorteile im Einsatz zu erzielen. Die Problem- und Handlungsfelder, die sich hier für das Wissensmanagement eröffnen, sind glitzernd und vielschichtig. Dass Wissensmanagement bislang dennoch nur ein Randthema ist, liegt vor allem daran, dass Wurzeln, Blätter und Blüte noch nicht erkannt haben, dass sie zur selben Blume gehören, dass sie für sich genommen sicherlich Aufmerksamkeit ob ihrer ausgeklügelten Funktionsweise, ihrer vollbrachten Arbeit, ihrer Notwendigkeit haben, dass sie einzeln aber zu schwach, nicht genügend nutzenstiftend oder schlichtweg nicht lebensfähig sind. Auf die Reibereien zwischen Informations- und Wissensmanagern habe ich bereits verwiesen, dieser Stelle sei denn auch die Community genannt, die sich mit dem Ziel der zeitgemäßen, flexiblen Umgestaltung der Ausbildungslandschaft in der Bundeswehr in enger Zusammenarbeit mit der Helmut Schmitt Universität Hamburg dem Thema e-learning widmet. Die Gruppe der Einsatzauswerter, die in ihrer Datenbank Erfahrungen aus den Auslandseinsätzen der Bundeswehr sammeln und analysieren, welchem anderen Ziel dienen sie, als das dort entstandene Wissen zu bewahren und weiter zu nutzen?

    Ein Blick in die Zukunft

    Die Bundeswehr steht derzeit noch am Beginn einer Aufholjagd betriebswirtschaftlicher Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Hier ist zunächst einmal die Prozessorientierung zu nennen. Neben dem Spiel auf der klassischen Klaviatur von Geschäftsprozessmanagement Business Process Reengineering oder Qualitätsmanagement könnte sie einerseits die schwach ausgeprägte organisationale Sichtweise stärken, andererseits den abstrakten Wissensbegriff im Kontext des Prozesses zumindest einfacher identifizierbar machen. Hiervon würden die Problemanalyse profitieren und die Wahl geeigneter Methoden treffsicherer erfolgen können. Somit bekäme der Begriff Management mehr Inhalt, das Lernen von den vertrauter werdenden Organisationen der Privatwirtschaft, die vermutlich auch in Zukunft den Interessenschwerpunkt der Forschung bilden werden, könnte sich vereinfachen, weil sich die Kontexte stärker ähnelten.

    Auch wenn bereits in den 90er Jahren Controlling – hauptsächlich im Sinne einer Kosten- und Leistungsrechnung – in den Streitkräften eingeführt wurde, so bildet es doch immer noch einen Fremdkörper im Truppenalltag, der bisweilen gar heftige Abstoßungsreaktionen hervorruft. Dass Controlling und Management sich harmonisch und sinnstiftend zusammentun ist eine große Hoffnung für das Wissensmanagement, gilt es hier doch ohnehin tradierte Ansätze kritisch zu hinterfragen. Mit der „Wissensbilanz – Made in Germany“ hat man erste vielversprechende Erfahrungen gemacht, die es nun zu institutionalisieren gilt.

    Fortschreitende technische Entwicklungen verändern zusehends die Möglichkeit der militärischen Operationsführung. Sie werfen nicht nur die Frage nach anderen Organisationsformen auf, sondern führen insbesondere auch zu stark veränderten Anforderungen der in ihnen Agierenden. So hat die Bedeutung von Informationen bereits die anderer operationsbedingender Faktoren wie Raum, Zeit, oder Kräfte übertroffen. Ihre kognitive Verarbeitung, ihre weitere Veredlung, das Ermöglichen kollektiver Intelligenz sind folgerichtige Schritte, in denen das Wissensmanagement eine zentrale Rolle spielen wird. Wissen bedeutet hier für moderne Streitkräfte Macht, weil es die weitergehende Handlungsfähigkeit gewährleitstet.

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