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Wissens-Management
29. Juli 2010 von Vera F. BirkenbihlVera F. Birkenbihl ist eine streitbare Kämpferin für mehr Bildung. Als Coach hat sie seit vielen Jahren mit vielen Menschen zu tun. Sie hat diverse Methoden zur Wissensaneignung entwickelt. In diesem Beitrag führt sie uns vor Augen, welche erschreckende Entwicklung unser Land in Richtung Unbildung nimmt. Doch es gibt Hoffnung, der Zustand ist durch uns selbst verursacht und kann auch durch uns wieder verändert werden. Packen wir es an!
Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Call for Papers für das Open Journal of Knowledge Management, Ausgabe I/2010 eingereicht.
Kennen Sie meine Variante des persönlichen Wissens-Managements? () ja () nein
Wenn nein: Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Aspekte, Tools oder Techniken, um das persönliche Wissen zu managen? Gut: Liste anlegen. Optimal: Liste mit anderen diskutieren, ehe Sie weiterlesen. Auch gut: erst lesen, danach mit anderen reden.
Im Seminar können die TeilnehmerInnen natürlich sofort diskutieren. Dabei stellt sich immer wieder heraus: so gut wie alle gehen davon aus, die Aufgabe bestünde darin, vorhandenes Wissen zu managen. Wenn ich darauf hinweise, dass wir uns speziell mit dem persönlichen Wissen einzelner befassen wollen, bleibt doch die Denk-Rille des Beherrschens von Wissen bestehen. Um aber persönliches Wissen managen zu können, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein:
1. Man muss wissen!
2. Man muss Zugang zum eigenen Wissen besitzen.
1. Man muss wissen!
Es ist erschreckend, wie viel die meisten Menschen nicht wissen, aber dieser Umstand erfährt seine Steigerung: Wer einiges gelernt hat kennt die Aussage aus eigener Erfahrung: Je mehr man weiß, desto mehr begreift man, wie viel man nicht weiß. Wer aber nicht weiß, macht diese Erfahrung nie, und das sind Otto und Ottilie NormalverbraucherInnen: Sie haben keine Ahnung, wie grotesk gigantisch ihr Unwissen ist. In meiner Jugend lag das Niveau der sog. Allgemeinbildung um einiges höher; auch die Zahl der Menschen, die regelmäßig in Stadtbüchereien gingen, weil sie zwar lesen wollten, sich aber nur wenige eigene Bücher leisten konnten. Auch Gymnasien klagen, dass die meisten heutigen Abiturienten die Prüfungen von vor zwei Generationen nie und nimmer schaffen würden, dass viele von ihnen die Tests von vor 10 Jahren bereits nicht mehr meistern könnten.
Zum ersten Mal wurde ich auf den Umstand stetig zurückweichenden Wissens aufmerksam, als ich die US-Army schulte (1975 - ca. 1988, sprich in Zeiten des „kalten Kriegs“). Sowohl in Berlin als auch in Kaiserslautern galt es, gehirn-gerechtere Wege in der Ausbildung zu finden, weil die jungen Leute mit dem früheren Ausbildungsstil nicht mehr klarkamen. Es gab sogar Versuche, die Bedienung der Panzer anhand von Comics zu vermitteln.
Bald begriff ich, dass ich hier eine Entwicklung beobachtete, die sich in vielen Industrienationen vorsichtig abzuzeichnen begann. Da ich damals regelmäßig in vier Sprachen Menschen verschiedener Nationen schulte, konnte ich mich mit vielen Bildungsbeauftragten bzw. mit jenen Managern austauschen, die in meinen Seminaren für geistige Tools (Intelligenz, Genialität, Innovationsfähigkeit) waren, also jene, die diese Entwicklung genau so besorgt beobachteten wie ich. Die Amerikaner waren uns, wie so oft, lediglich zeitlich voraus. Inzwischen ist auch bei uns allgemein bekannt, was ich damals beobachtete, denn seit ca. 1998 ist die Situation bereits im Lehrberufe-Sektor so kritisch, dass viele Lehrstellenanbieter dazu übergegangen sind, mittlere Reife zu verlangen (wo früher Schulabschluss mit 14 gefordert war) bzw. sogar Abitur zu fordern (wo früher Abbruch des Gymnasiums oder Mittlere Reife gereicht hatten). Inzwischen habe ich mit einer Reihe von Ausbildern gesprochen, die z.B. berichten:
Ein Handwerker: „Die Jungens konnten weder eine Strecke an einer Wand ausmessen, noch die Messergebnisse notieren und zusammenzählen, z.B., um auszurechnen, wie viel Material ein Vorgang benötigen würde.
Eine Bäckerin: Die jungen Leute sind nicht einmal fähig 200 g Mehl abzuwiegen, wenn der Sack Mehl und die Waage vor sie hingestellt werden.
Ein Metzger: „Habe 19 Bewerber interviewt, was Zeit und vor allem Nerven kostet. Nicht einer konnte bei mir anfangen, weil ihnen die Grundfähigkeiten, zu lesen, schreiben oder rechnen abgehen. Was ich nicht verstehe ist, wieso sie überhaupt ein Abschlusszeugnis hatten...?“
Nun, es hat Fälle gegeben, in denen Bundesländer (z.B. Bayern 2007) ca. 10% der Zeugnisse jener, die den „Quali“ (qualifizierenden Hauptschulabschluss) nicht schafften, einfach „hochgerechnet“ haben, um die saubere Statistik nicht zu gefährden. Es ist übrigens dasselbe Bundesland, in dem eine bes. fähige Lehrerin, die ihre SchülerInnen in Mathe von 5ern auf 1er und 2er gebracht hatte, geschasst wurde. Warum? Weil sie sich weigerte, die Noten „auf Glocke“ zu berechnen (d.h. nach der Gauß'schen Kurve), so dass man nicht erkennen kann, wie gut die SchülerInnen eigentlich sind. Eine „absolute“ Berechnung (wie in den vielen europäischen Ländern inzwischen üblich) würde nämlich auch Aufschluss darüber geben, welche Lehrkräfte besser unterrichten. Wissen Sie, wie das Schulamt (das sie versetzte), dies begründete? Sie würde den sozialen Frieden unter den Lehrkräften gefährden. Tja, der seelische Frieden von Kindern, die per unfairer Notengebung wieder mal zu Versagern gemacht werden, kümmert ja keinen, vor allen unsere Kanzlerin nicht, die lieber in China auf Menschenrechte pocht, statt sich zuhause an die eigene Nase zu fassen! Falls sich das so liest, als sei ich sauer, dann haben Sie vollkommen recht. Nachdem ich Jahrzehnte gegen Lehrkräfte angekämpft habe und diese nun in wachsendem Maße mitziehen wollen, legen sich die Schulämter quer und vernichten die Chancen, die gute Pilotprojekte an Schulen geschaffen haben. Und das ist gewollt.
2. Man muss Zugang zum eigenen Wissen besitzen.
Das Problem ist, wie NØRRETRANDERS (1) hervorragend beschrieb, folgendes: Wenn wir alles, was wir wissen, im Bewusstsein jonglieren müssten, dann könnten wir nicht einmal die Straße überqueren. Also sorgt die Natur dafür, dass unser Unbewusstes all dies von unserem Bewusstsein fernhält. Dies stelle ich meinen TeilnehmerInnen mit folgender Metapher vor: Unser klitzekleines Bewusstsein ist der Flaschenhals, durch den wir in die gigantischen Katakomben unseres Unbewussten gelangen, wo unser Wissen ruht.
Als nächstes gilt es, uns ein Bild von den neurophysiologischen Zusammenhängen zu machen, um zu verstehen, wie Wissen „angezapft“ werden kann. Hierzu dient folgende Metapher (2):
Zahlreiche 10.000-e Kästen, Kisten, Schubladen etc. werden von 1000-en „Mitarbeitern“ beaufsichtigt, deren Aufgabe darin besteht, das Wissen in den Containern zu bewahren. Sucht der Gehirn-Besitzer Zugang zu Teilen des Wissens, muss er „rufen“, so dass ein Mitarbeiter die richtige Schublade oder den korrekten Kasten öffnet.
Beispiel: Sie spielen Stadt, Land, Fluss und die Schubladen für Städte, Länder, Flüsse müssen sich öffnen. Sie können leer bis (halb-)voll sein, aber sie öffnen sich. Je öfter man spielt, desto geölter werden Schienen, Scharniere etc., d.h. desto schneller öffnen sie sich. Deshalb bezeichne ich (3) die Fähigkeit, das eigene Wissen anzuzapfen als Stadt-Land-Fluss- (kurz: S-L-F-)-Effekt.
Nun erhebt sich die Frage, wie lange die Schublade aufbleibt. Zunächst macht der metaphorische Mitarbeiter die Schublade jedes Mal auf und wieder zu, aber wenn Sie länger spielen, wird ihm das ewige auf-zu-auf-zu zu dumm und er lässt sie offen. Frage: Wie lange hält der S-L-F-Effekt vor? Raten Sie?
Antwort: ca. 30 Stunden (+/- ca. 4 Stunden). Nun verstehen wir, warum manche Leute regelrecht „dümmer“ aus dem Urlaub zurückkehren. Zu viele wichtige Schubladen waren 3 Wochen lang geschlossen geblieben. Das Gegenteil sehen wir bei Experten. Sie denken so häufig an ihre Kernthemen, dass ihre Schubladen offen stehen. Aber, und jetzt kommt des Pudels Kern: Weil sie offene Schubladen haben, assoziieren sie vieles, was sie wahrnehmen, mit ihren wichtigen Themen! Weil dies aber passiert, haben sie wieder mal „dran gedacht“, also bleiben die Schubladen offen.
Das Gegen-Modell liefern Otto und Ottilie Normalverbraucher: Weil sie so selten an Dinge denken, die in ihren Schubladen verstauben, bleiben diese zu. Und weil sie zu sind, denken normale Menschen so selten an „sowas“. Der Teufelskreis führt zu permanentem geistigen Abbau. Man interessiert sich im Alter für immer weniger, weil es die Mühe nicht wert zu sein scheint, die verkrusteten Schubladen zu öffnen.
Gerade sehe ich einen jener unzähligen Männer mittleren Alters (im Fernsehen), die derzeit Kurzarbeit machen und Angst haben, arbeitslos zu werden. Man jammert, wie schlimm es ist, den ganzen Tag im Haus herumzusitzen, nichts zu tun zu haben etc. etc. Was mich in meinen 7 Amerika-Jahren besonders beeindruckt und geprägt hat, ist die Einstellung dort zu Arbeitslosigkeit (ja, auch ich weiß, wie das ist, auch als Ausländerin). Dort sitzt man nicht zu Hause (oder in der Kneipe nebenan) herum, dort marschiert man in die Stadtbibliothek und bildet sich weiter. Viele später sehr erfolgreiche Leute haben dort ihre ersten wichtigen Lektionen über das Meistern von Situationen gelernt, für die das Elternhaus sie nie vorbereitet hatte. Die Tatsache, dass es unseren Normalverbrauchern im Traum nicht einfallen würde, selbst aktiv zu werden, Infos zu sammeln und zu nutzen, im Klartext, zu DENKEN, spricht Bände. Welches Wissen sollen solche Leute denn managen, wenn sie a) zu wenig haben und b) kaum etwas unternehmen, um es zu vermehren.
Das Schlimmste daran sind zwei Tatsachen: Erstens, dass vor allem die Besitzer wenig genutzter Gehirne später viel früher unter Demenzen zu leiden beginnen (nein, nicht alle werden an Alzheimer erkranken, deshalb sprachen die Missfits früher gern vom „Altersheimer“). Zweitens, dass auf diese Weise die Zahl jener, die über ihr Leben (von ihren Problemen ganz zu schweigen) nicht nach-DENKEN können, ständig wächst. Das aber hat Aus-WIRK-ungen, denn es bedeutet: Verringerte Neurogenese (Nervenwachstum) in Millionen von BürgerInnen. Diese aber geht mit Depression einher (nicht grundlos die derzeitige Volkskrankheit). Bei hohem Testosterongehalt kann die Depression in Aggression umschlagen: prügelnder Jugendliche sind Menschen mit einem halbtoten Gehirn (im neurophysiologischen Sinn!). Beginnen wir sie zu echtem Lernen (nicht Pauken, Lernen mit Verstand) zu motivieren, geht als erstes die Aggression zurück. Eine andere Variante ist die sog. Autoaggression: von Selbstverletzern (die sich ständig Schnitte und Blutungen zufügen) bis zu jenen vielen, die sich das Leben nehmen (sie werden immer jünger).
Wie wir sehen, würden flächendeckende Trainings-Maßnahmen eine Menge für das ganze Land tun, denn unsere derzeitige Situation ist u.a. auch volkswirtschaftlich eine Katastrophe, allerdings eine, die lösbar wäre. Die Techniken habe ich in 4 Jahrzehnten entwickelt und veröffentliche seit einiger Zeit immer mehr der Denk-Tools, Denk-Modelle und Denk-Anstöße kostenlos in birkenbihl-denkt.com, damit keiner mir mehr erzählen kann, er könne mit meinen Büchern nicht arbeiten, weil er das Geld nicht hätte oder weil er die kleine Schrift nicht lesen kann. Deshalb sind Schriften auf meinen Websites eh etwas größer gehalten, bzw. sollten es sein; (das ist eine stehende Anweisung an jene, die das Webmastering durchführen), am Bildschirm kann man darüber hinaus auch wunderbar vergrößern. Sie sehen, die Ausreden gehen langsam aus. Das ist mein Beitrag zum Wissens-Management jener, die 1. erst mehr Wissen „anschaffen“ müssen und die 2. lernen wollen, Zugang zu dem, was sie tatsächlich wissen, zu schaffen.
Quellenangaben
1 NØRRETRANDERS, Thor: Spüre die Welt
2 BIRKENBIHL, Vera F.: Von Nix kommt nix (DVD: Mitschnitt eines Vortrags an der T.U. München, 2003)
3 BIRKENBIHL, Vera F.: Das innere Archiv, 4. Aufl., mvg
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