Systemarchetypen

    02. Mai 2010 von Dr. Bernhard von Guretzky

    Systemarchetypen sind ein Hilfsmittel, Verhaltensmuster im Unternehmen zu beschreiben. Die inneren Strukturen werden dadurch sichtbar und können verändert werden. Der Begriff des Systemarchetyps leitet sich aus der Archetypentheorie C.G. Jungs ab, für die in letzter Zeit auch erklärende Metaphern aus der Komplexitätstheorie vorgeschlagen wurden. Diese Verbindungen sollen hier vorgestellt werden, um so einen tieferen Einblick in die Unternehmens- und Wissenskultur im Unternehmen erhalten zu können.

    It all depends on how we look at things,
    and not how they are in themselves.
    C. G. Jung

    1. Problemstellung

    In (v. Guretzky, 2010) wurde die Komplexitätstheorie als Erklärungsmetapher vorgestellt, um auf notwendige Veränderungen des Unternehmensumfeldes rechtzeitig und adäquat reagieren zu können. Begriffe wie Bifurkation und seltsamer Attraktor dienen dazu, die Situation, in der sich ein Unternehmen befindet zu analysieren und durch geeignete Rückkoppelungen das Verhalten des eigenen Unternehmens als auch bis zu einem begrenzten Umfang das der Stakeholder zu beeinflussen. Zugegebenerweise ist der dabei zum Einsatz kommende mathematische Apparat nicht trivial und erfordert darüber hinaus eine detaillierte Modellierung des eigenen Unternehmens wie das der Stakeholder. Wie schwierig diese Modellierungsarbeit ist, ließ sich in den vergangenen zwei Jahren an der Finanzkrise, mit der die gesamte Weltwirtschaft zu kämpfen hatte, besichtigen. So waren die meisten Investmentbanker davon überzeugt, dass die Verbriefung ("securitization") von Hypotheken den Preisverfall von Immobilien auf lokal begrenzten Märkten unbeschadet überstehen wird, einfach weil das gehandelte Volumen in keinem Verhältnis zur gesamten Marktgröße steht. Deshalb haben die Ratingagenturen diesen neuen Finanzprodukten auch ihr Gütesiegel aufgedrückt, damit jedoch die Lawine erst richtig ins Rollen gebracht. Offensichtlich wurde aber bei dieser Einschätzung die potenziell verheerende Wirkung von Rückkoppelungsschleifen außer Acht gelassen, in deren Folge die Kreditvergabe stark eingeschränkt wurde und daraufhin die wirtschaftliche Tätigkeit Bifurkationspunkte überschritt, sprich die Weltwirtschaft sich in ihrer schlimmsten Krise seit 65 Jahren befand.

    Mathematische Modelle sind also nur begrenzt aussagefähig. Hat man Erfahrungen über menschliche Verhaltensweisen gerade auch von Gruppen, so helfen diese, typische Verhaltensmuster und damit auch Systemzustände zu erkennen. Solch typische Verhaltensmuster eines Individuums nennt man Archetypen, ein Begriff, den der Schweizer Psychologie und Begründer der »analytischen Psychologie« Carl Gustav Jung vor ca. 90 Jahren eingeführt hat. Der »Managementguru« Peter Senge hat 70 Jahre nach Jung in seinem Buch »The 5th Discipline« den Archetypenbegriff auf Organisationen übertragen und diejenigen Archetypen, die unternehmerisches Verhalten am stärksten beeinflussen, untersucht. Nach Senge heißen solche »organisationalen« Archetypen Systemarchetypen. Diese sollen hier vor dem Hintergrund der Jungschen Terminologie beschrieben werden. Der hier benutzte Begriff des Archetyps hat jedoch nichts mit dem zu tun, was Nonaka & Takeuchi in ihrem »5-Phasen-Model« der Wissensschaffung einführten. Sie benutzen den Begriff Archetyp als Synonym für Prototyp – möglicherweise in Unkenntnis der im westlichen Sprachgebrauch verwendeten Konnotation.

    2. Archetypen und das kollektive Unbewusste

    Seine Vorstellungen zum kollektiven Unbewussten und den Archetypen präsentierte Jung das erste Mal in einem Vortrag vor der British Psychological Society im Jahre 1919; Teilnehmer waren hier u. a. die führenden englischen Philosophen der Zeit wie G. E Moore, Bertrand Russell und Alfred N. Whitehead. Durch seine intensive Auseinandersetzung mit dem Physiker und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli, der sich in einem wissenschaftshistorisch bedeutsamen und über 30 Jahre dauernden Briefwechsel niederschlug, schärfte sich langsam seine Begriffsbildung. Diese Freundschaft war für beide ein Glücksfall. Ohne die Kompromisslosigkeit Paulischen Denkens, dem nicht umsonst der Titel des »Gewissens der Physik« ob seiner mitunter beißend vorgetragenen Kritik zuerkannt wurde, hätte es Jung mit Sicherheit schwerer gehabt, Anerkennung für diese Begriffsbildungen zu finden.

    Jung war fasziniert von Mythen, Märchen und Symbolen, die ihn auf den Gedanken brachten, dass die Menschheit ursprünglich eine Kollektiv- oder Weltseele hatte, die ihre Entsprechung im Unbewussten fand. Zwar oft in gänzlich unterschiedlichen Handlungssträngen sind Mythen und Märchen Zeugen dafür, dass sich unser unbewusstes Verhalten von anderen Menschen kaum unterscheidet. In einer seltsamen Verbundenheit – einer participation mystique – handeln und reagieren, denken und fühlen wir wie andere Menschen (v. Franz, 2005, S. 318). Jung untersuchte diejenigen Elemente der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung, die vom aktuellen kollektiven Bewusstsein unterdrückt werden, aber Strukturen aufweisen, die zum Gemeingut der Menschheit gehören und eben in Mythen, Märchen und Symbolen erkennbar werden. Diese Schicht bezeichnete er als das kollektive Unbewusste. Im Gegensatz zur persönliches Psyche beinhaltet es Verhaltensmuster – »patterns of behaviour«, die bei allen Artgenossen ähnlich sind.

    Im Gegensatz zum individuellen Unbewussten basiert das kollektive Unbewusste nicht auf persönlichen Erfahrungen sondern ausschließlich auf Vererbung (Jung, S. 45). Es ist damit von einer transpersonalen, orts- und zeitunabhängigen Struktur und kann anhand interkultureller Vergleiche wie der Mythen und Märchen studiert werden. Über unser unbewusstes Verhalten und unsere Instinkte sind wir mit anderen Menschen verbunden und erst durch das Bewusstsein werden wir zu Individuen. Darauf beruht das Gemeinschaftsempfinden und das Gefühl der Verantwortung füreinander.

    Abb.: Die Schichten des Unbewussten

    Marie-Louise v. Franz, auf die obige Graphik (v. Franz, 1992) zurückgeht, beschreibt die einzelnen Schichten wie folgt:

    »Der innerste Kern repräsentiert das Ichbewusstsein der Menschen, darüber liegt die von Freud entdeckte psychische Schicht [des individuellen Unbewussten] der vergessenen und verdrängten Erinnerungen, Wünsche und Triebimpulse. Das Gruppen-Unbewusste enthält die in Gruppen, Sippen, Stämmen etc. üblichen gemeinsamen Reaktionen und Komplexe und darüber diejenigen Komplexe und Reaktionen auf nationaler Ebene. Die äußere Schale schließlich stellt die Summe jener universellen [...] Strukturen dar, die der gesamten Menschheit gemeinsam sind, eine Atmosphäre, in der wir alle enthalten sind und die auf uns einwirkt. Umgekehrt berührt ein Individuum, wenn es an seinem Unbewussten arbeitet, auch den Bereich des Gruppen-, nationalen oder kollektiven Unbewussten und hat damit einen unmerklichen Einfluss auf die unbewusste Seele vieler anderer Menschen.« (v. Franz, 2005; S. 63f)

    Das kollektive Unbewusste beeinflusst also die Entwicklung des Einzelnen, wie umgekehrt die Entwicklung des Einzelnen das kollektive Unbewusste verändert. Die Grundstrukturen des kollektiven Unbewussten bilden die Archetypen, die sich in den mythologischen Symbolen der Menschheit kundtun.

    Johannes Kepler war es, der die Hypothese der Archetypen einführte und sich damit auf »präexistente« Ideen bezog. Er meinte, Entdeckungen finden dann statt, wenn Beobachtungen in der Welt mit Formen oder inneren Bildern der menschlichen Psyche zur Deckung kommen. Für Kepler war die Geometrie gleichsam der Archetyp des Kosmos.

    Jung benutzte den Term Archetypen, unter denen er diejenigen formalen Faktoren verstand, die unbewusste seelische Vorgänge anordnen. Immer wieder verwendete er dafür auch den aus der Biologie stammenden Begriff »pattern of behaviour«, um damit deutlich zu machen, dass es sich hierbei um angeborene und damit ererbte Veranlagungen handelt, die artspezifisches Verhalten formen. Die Menschen teilen dasselbe genetische Material, ihr Denken und Fühlen ist ähnlich, weil es sich gleich entwickelt hat. Diese Eigenschaft, ähnliche Ideen und Emotionen zu haben wie unsere Artgenossen, ist das Resultat archetypischer Aktivität (Eenwyk, S. 22). Archetypen gibt es für alle Lebewesen, eine Tatsache die durch Beobachtungen der Verhaltensforschungen bestätigt zu sein scheint und die den Begriff Archetyp in enge Nachbarschaft zum Instinktbegriff Konrad Lorenz' rückt. Jung vertrat die Meinung, dass Archetypen die unbewussten Bilder der Instinkte sind, also Muster instinktiven Verhaltens.

    Jung hat auf treffende Weise beschrieben, wie sich ein Archetyp »konstelliert«, ohne dass das Bewusstsein regulierend eingreift, der Archetyp also im Schatten bleibt:

    »Wenn ein hochverdienter Gelehrter noch mit 70 Jahren seine Familie stehenlässt und eine zwanzigjährige rothaarige Schauspielerin heiratet, dann wissen wir – haben sich die Götter wieder ein Opfer geholt.« (Jung, S. 33)

    Ganz offensichtlich erzeugen Archetypen Bilder und Vorstellungen im Menschen. Sie sind latente Möglichkeiten oder Ordnungsprinzipien, nach denen wir Wahrnehmungen analysieren. Die archetypischen Erscheinungen wie Ideen, Symbole oder innere Bilder, die individuelles wie kollektives Unbewusste hervorbringen, sind also nicht mit dem Archetyp selbst gleichzusetzen, ja die wahre Natur der Archetypen bleibt dem Bewusstsein nicht nur wegen ihres Beziehungsreichtums verborgen. Da sie unterhalb der Schwelle des Bewusstseins wirken, kann ihre Wirkungsweise nicht direkt erfahren werden. Nur über die Konkretisierungen des Bewusstseins, ihre Wirkungen und Visualisierungen werden wir ihrer gewahr.

    Die von Archetypen evozierten Symbole erscheinen uns in Träumen oder halb-bewussten Phantasien, in spontan hervortretenden inneren Bildern oder wir projizieren sie auf Objekte oder Personen in der uns umgebenden Welt. Im letzteren Fall wundern wir uns dann über unsere übertrieben starke positive bzw. negative Reaktion etwa auf andere Menschen – ein untrügliches Zeichen für das Wirken des Schattenarchetyps. Der Schatten – die dunkle Seite unserer Persönlichkeit – »verhüllt« quasi diejenigen Eigenschaften, die wir in der Dunkelheit belassen wollen. Wir projizieren das auf andere, was wir bei uns selbst unterdrücken und nicht wahrhaben wollen. Erst die Rücknahme der Projektion, d.h. die Erkenntnis, dass die Anteile, die wir einem anderen andichten, wir selbst in uns tragen, trägt nicht nur zur Selbsterkenntnis bei, sondern wir befreien damit auch unser Gegenüber von dem »Fluch« der emotionsgeladenen Bilder, die wir mit ihm zu verbinden meinen. Erst wenn wir die andere Person von unseren Bildern befreit haben, beginnt diese sichtbar zu werden.

    Weil sich Archetypen definitionsgemäß einer rationalen Untersuchung entziehen, sind für den Begriff eine ganze Reihe von Metaphern gebildet worden. Jung selbst hat dafür die Gleichnisse von Kristall oder Flussbett benutzt:

    »Die Form [eines Archetyps] ist etwa dem Achsensystem eines Kristalls zu vergleichen, welches die Kristallbildung in der Mutterlauge gewissermaßen präformiert, ohne selber eine stoffliche Existenz zu besitzen« (Jung, S. 79).

    Laugen haben das Potenzial einer präexistenten Struktur, die sich unter geeigneten Voraussetzungen herausbilden – konstellieren – kann. Ebenso verglich Jung den Archetyp mit einem ausgetrockneten Flussbett, dessen Lauf das Wasser immer wieder folgt, wenn es zu fließen beginnt.

    Ein ähnliches Bild steckt hinter dem der Eisenspäne, die sich an den Feldlinien eines Magneten ausrichten. Das dabei entstehende Muster kann mit dem psychischen Muster, das durch den Archetyp geprägt wird, verglichen werden (Eenwyk, S. 28f). Auch werden Archetypen mit Lösungen von Gleichungen verglichen, die ja eine Form physikalischer Wirklichkeit symbolisieren.

    Archetypen vermitteln Bilder und Vorstellungen von der Welt und prägen dadurch die Art und Weise, wie wir die Wirklichkeit modellieren. In diesem Sinn lässt sich Jungs Konzept der Archetypen als einheitliche Basis für die Wissenschaften insgesamt verstehen. Man kann die Archetypen als Operatoren zwischen der Welt der symbolischen Bilder und der Welt der Ideen verstehen, sie bestimmen die Struktur der Welt und damit auch die sie beschreibenden Naturgesetze. Damit sind sie Voraussetzung für die Entstehung einer naturwissenschaftlichen Theorie und prägen deren Ausformulierung durch die Transformationsgesetze, d.h. die mathematischen Grundlagen der Theorie (Card, S. 274). Da naturwissenschaftliche Phänomene Erscheinungen im menschlichen Bewusstsein sind und umgekehrt die Naturwissenschaften den Rahmen einer gemeinsamen Erfahrung bilden, kann man davon ausgehen, dass jeder Forscher von archetypischen Bildern begleitet wird. Dies gilt natürlich auch im unternehmerischen Kontext: die Art und Weise wie Forschung und Entwicklung im Unternehmen betrieben wird, welche technischen Lösungen favorisiert, welche verworfen werden, wie der Umgang mit Kunde und Mitarbeitern sich gestaltet, wie die Konkurrenten und der Markt gesehen werden, das eigene Verhältnis zur Gesellschaft etc.

    Symmetriegesetze sind die wesentlichen Aussagen, die sich über physikalische Phänomene machen lassen, deshalb kann man die Symmetrie als Archetyp interpretieren, der in der mathematischen Gruppentheorie seine symbolische Darstellung findet. Xenons Paradox des Wettrennens zwischen Achilles und der Schildkröte lässt sich als symbolische Darstellung des »Archetyps des Reduktionismus« interpretieren, wo das Rennen über die gesamte Strecke als ein in einzelne voneinander unabhängige Schritte zerlegt wird. Daraus, so lässt sich vermuten, ist nicht nur das Infinitisimalkalkül entstanden, wie ihn Leibnitz 2.000 Jahre nach Xenon formuliert hatte, sondern auch eine Form des logischen Reduktionismus in der Mathematik, der vor allem von Bertrand Russell und David Hilbert zu Beginn des letzten Jahrhunderts verfolgt wurde. Diese Beispiele zeigen, wie Archetypen die Entwicklung der Wissenschaft beeinflussen und wie schwierig es ist, sich von der »archetypischen Klammer« in unserem Unbewussten zu befreien, um neuen wissenschaftlichen Paradigmen Raum zu geben. Wie lange es dauert, bis neue Sichtweisen ins kollektive Unbewusste einsickern und damit zur nicht mehr hinterfragten Gedankenwelt der Menschheit werden, lässt sich an der Akzeptanz der Relativitätstheorie ablesen, die ja immer noch angezweifelt wird. Einstein hat mit der Relativitätstheorie einen der ältesten Archetypen »bearbeitet« nämlich den des »Selbst«, in dem er dem absoluten Raum, den Newton und Kant noch als ganz selbstverständlich annahmen, abschaffte. Umso erstaunlicher ist es, dass derselbe Mann, der damit Neuland betreten hatte, nicht in der Lage war, den »Archetyp der Kausalität« zu bearbeiten, argumentierte er doch 50 Jahre lang gegen die Akausalität der Quantentheorie.

    Die in der Alltagssprache bekanntesten Archetypen sind wohl Anima und Animus, die gegengeschlechtlichen inneren Komponenten von Mann und Frau. Hinter Animus und Anima liegt der Archetyp der Sexualität (Libido). Der zentrale Archetyp ist der des Selbst, der die Grundform der menschlichen Ganzheit definiert und dem Individuum mit dem Drang nach Höherentwicklung und geistiger Bestimmung Sinn und Richtung vermittelt. Die Figur des Reineke Fuchs etwa ist ein weitverbreitetes Mythologem für den Trickster-Archetyp, den weisen Narren. Er hinterfragt Ideale und Glaubenssätze genauso wie gesellschaftliche Normen und Verhaltensweisen und legt sich mit den heiligen Kühen unserer Gesellschaft an. Jedes Unternehmen kennt solche Mitarbeiter und weiß deren Einfluss zu schätzen, obwohl es oft schwierig zu beurteilen ist, was ihre eigentliche Aufgabe im Tagesgeschäft ist.

    Merkur oder sein griechischer Gegenpart Hermes als Gott des Handels, der Strassen und der Veränderung symbolisieren den Archetyp des Unternehmers

    3. Systemarchetypen

    Im vorherigen Abschnitt wurde beschrieben, wie sich das kollektive Unbewusste aus den Schichten des nationalen Unbewussten, des Gruppenunbewussten und dem individuellen Unbewussten zusammensetzt. Erweitert man Jungs Begriff der Archetypen und überträgt ihn auf das Gruppenunbewusste, wobei diese Gruppe aus den Mitarbeitern eines Unternehmens oder allgemeiner den Stakeholdern eines Unternehmens besteht, so gelangen wir zu den Systemarchetypen als einem Konzept systemischen Denkens. Aus dem bislang Gesagten über »individuelle« Archetypen folgt, dass Systemarchetypen »pattern of baviour« in Organisationen beschreiben und diese die verborgenen Strukturen in einem Unternehmen offenlegen, aus denen sich die über die Zeit entwickelten typischen Verhaltensmuster herausgebildet haben, die immer wieder in der einen oder anderen Form sichtbar werden, als wären sie gottgegeben. Die »Symbole«, die mit den Systemarchetypen assoziiert sind, entsprechen typische Verhaltensweisen im Unternehmen. Diese Symbole sollen weniger interpretiert als ihre Dynamik erfahren werden, nur so werden sie aktiv und können als Mittler von Veränderung wirken.

    Das Verständnis von aktualisierten Systemarchetypen hat sowohl »diagnostische« Effekte als auch »steuernde« Auswirkungen. Denn sie verdeutlichen, ja prognostizieren nicht nur Verhaltensmuster, sondern sind auch die Hebel, an denen man ansetzen muss, um das Verhalten nachhaltig zu verändern. Systemarchetypen machen die inhärenten Strukturen eines sozialen Systems sichtbar also diejenigen Beziehungen, die das Verhalten der einzelnen Systemelemente steuern. Dabei handelt es sich um:

    • die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden und
    • welche Ziele, Regeln und Normen zu handlungsrelevant.

    Damit sind Systemarchetypen die entscheidenden Faktoren, die die Wissens- und Unternehmenskultur bestimmen. Ohne Kenntnis der Symbole, der wirkenden »Mythologeme« im Unternehmen, ist es schlicht unmöglich, zu tiefgreifenden Veränderungen zu gelangen.

    Systemarchetypen stellen für ein richtiges Vorgehen im Umgang mit Systemen ein wichtiges Hilfsmittel dar. Diese Archetypen systemischen Verhaltens treten interdisziplinär in den unterschiedlichsten Bereichen immer wieder auf und erleichtern die Vorausberechnung der Entwicklung eines Systems und die Gestaltung von Eingriffen in dieses beträchtlich. Sie helfen unbeabsichtigte Auswirkungen des eigenen Handelns zu vermeiden und die Eigendynamik eines Systems besser zu verstehen.

    Betrachtet man Unternehmen – wie alle sozialen Systeme – als komplexe Systeme (siehe v. Guretzky, 2010), so wird die Notwendigkeit klar, die dieses Systeme bestimmenden Strukturen zu verstehen und nicht nur die der einzelnen »Akteure«. Steuernde Eingriffe sind nur auf Systemebene erfolgreich, wobei Rückkoppelungseffekte zu berücksichtigen sind. Denn Handlungen und Entscheidungen treten ja nicht nur zeitverzögert an anderen Stellen auf, sondern ihre Auswirkungen sind auch innerhalb des Systems kaum wahrnehmbar. Deshalb ist die Notwendigkeit eines Blicks von außen auf die Struktur des Systems Unternehmen so wichtig. Peter Senge hatte in seinem 1990 erschienenen Buch »The 5th Discipline« ursprünglich neun der wesentlichen Systemarchetypen beschrieben, die für die typischen Verhaltensmuster verantwortlich sind (Braun, 2002):

    • Erfolg den Erfolgreichen

    Dieser Archetyp – die »80/20-Regel« – beschreibt die verbreitete Praxis, dem Erfolgreichen mehr Aufmerksamkeit, mehr Mittel zukommen zu lassen. Damit werden die weniger Erfolgreichen nicht nur benachteiligt, sondern ihnen wird dadurch auch die Möglichkeit verbaut, sich selbst zu profilieren. Dieses Verhalten kommt oft der Verschwendung vorhandener Ressourcen gleich, unterbleibt damit doch eine gezielte Förderung anderer Bereiche, die es vielleicht viel nötiger hätten.

    • Tragik der Allmende

    Dieser Archetyp hängt mit dem vorhergegangenen zusammen, wird doch die Allmende – im unternehmerischen Kontext sind das die Mitarbeiter, Budgets, Material etc – ungleich verteilt. Dieser Archetyp legt die Egoismen, das narzisstische Verhalten offen und schürt die innerbetrieblichen Verteilungskämpfe.

    • Erodierende Ziele

    Dieser Archetyp unterminiert die Ziele und Visionen eines Unternehmens. Werden diese immer wieder der Wirklichkeit angepasst, ohne sich darüber im Klaren zu werden, warum Ziele nicht erreicht werden, so verliert das Unternehmen auf Dauer seine Identität und seine Glaubwürdigkeit.

    • Eskalation

    Um die vermeintlichen Interessen des Unternehmens zu wahren, eskalieren oft Verhaltensweisen mit dem Ergebnis, dass nicht nur dem Unternehmen Schaden zugefügt wird, sondern auch den übrigen Stakeholdern. Beispiele sind Bestechungsfälle (Siemens, Mercedes), Marktmissbrauch (Microsoft) oder Firmen wie Lidl oder Aldi, die sich in für Zulieferer ruinöse Preiskämpfe verstricken.

    • Feinde wider Willen

    Dies ist ein weitverbreiteter Archetyp, der sich dann aktualisiert, wenn Teams, die in einer Arbeitsbeziehung zueinander stehen, das Verhalten der Gegenseite falsch interpretieren. Darauf folgen Verdächtigungen oder unrealistische Erwartungen an die andere Seite, ohne dass diese Erwartungen deutlich gemacht werden. Es fehlt an der Fähigkeit der Zusammenarbeit und die Folge ist Misstrauen und die schleichende Zersetzung der Beziehung.

    • Grenzen des Wachstums

    Diesem Archetyp sind all diejenigen verhaftet, die nicht verstehen wollen, dass steigendes Wachstum an seine Grenzen stoßen muss. Die Aufgabe liegt darin, diese Grenzen auszuloten und sich der »Bifurkationspunkte« bewusst zu werden und sich damit auf mögliche Rückschläge proaktiv einzustellen. Dieser Archetyp ist gut bei Großunternehmen zu beobachten, die nach stürmischen Wachstumsphasen ins Mittelfeld zurückfallen, siehe IBM, GE oder GM.

    • Wachstum und Unterinvestment

    Dieser Archetyp adressiert die Wissensziele, die sich ein Unternehmen setzen sollte. Hier geht es um den Ausbau der Kernkompetenzen, gerade auch in Situationen, wo die zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht auszureichen scheinen, um diese gezielt zu fördern. Denn ohne dass die Kernkompetenzen soweit entwickelt werden, die nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, wird das Unternehmen schnell in existenzbedrohliches Fahrwasser geraten. Die Bearbeitung dieses Archetyps erfordert möglicherweise, Ressourcen von anderen Bereichen abzuziehen und diese damit insgesamt in Frage zu stellen.

    • Lösungen, die zurückschießen

    Dieser Archetyp beschreibt die Gefahren reduktionistischen Denkens: Eine schnelle, billige Lösung eines isoliert betrachteten Problems kann katastrophale Auswirkungen auf das Gesamtsystem haben. Anstelle mit grundsätzlichen Problemlösungen zu arbeiten, werden symptomatische Lösungen, die sog. Schnellschüsse angeboten. Dieser Archetyp ist eng verbunden mit dem folgenden der

    • Problemverschiebung

    Dieser Archetyp verbaut die Systemsicht und gaukelt die Machbarkeit einfacher, oft auch radikaler Lösungen vor, die Lösungen zu augenfälligen Schwierigkeiten versprechen. Damit wird der nachhaltigen Lösung eines Problems aus dem Weg gegangen.

    • Diffusion von Neuem

    Dieser Archetyp zeigt sich im »not-invented-here«-Syndrom. Ist dieser Archetyp bei den verantwortlichen Personen konstelliert, so fehlt das Bewusstsein, wie mit der Ressource Wissen verantwortlich und nachhaltig umzugehen ist. Es fehlt am Willen, vorhandenes Wissen zu teilen und wiederzuverwenden. Ein ausgeprägtes Gruppenbewusstsein verhindert Einflüsse von außen und die eingespielten Entwicklungsprozesse sollen möglichst nicht gestört werden.

    Archetypen beeinflussen die Art und Weise, wie wir unsere Welt wahrnehmen und beschreiben, sie beeinflussen damit auch die Art und Weise, wie in einem Unternehmen Probleme gelöst werden und welche Wege dabei – meist unbewusst – nicht beschritten werden, obwohl diese möglicherweise zielführender wären: Hypothesen sind stets Symbole und beziehen sich auf die unbewusst gemachten Prämissen – ja auf etwas (noch) nicht zu Erkennendes. Archetypen »verstecken« sich hinter diesen Symbolen und umgekehrt lässt das Unbewusste zu verschiedenen Zeiten und unterschiedlichen Orten die Strukturen der Archetypen als Komplexe von Bildern und Symbolen auftauchen, die wissenschaftlichen und technischen Lösungen Gestalt geben. Auf individueller Ebene wirken Archetypen auch als Regulatoren und Stimuli der kreativen Phantasie.

    Dieser Zusammenhang zwischen wirkenden Archetypen und technisch-wissenschaftlichen Entwicklungen sollte im Unternehmen aufgedeckt werden, um Irrwege zu vermeiden. Hierbei helfen die Systemarchetypen. Darüber hinaus erlauben sie es, die systemischen Entwicklungen im Unternehmen mit einer gewissen Distanz beobachten zu können, legen sie doch die Vernetztheit der Strukturen offen, um die Hebel für wirksame Steuerungsmaßnahmen finden zu können. Dies setzt voraus, dass die Systemarchetypen selbst in ihrer Gesamtheit zu analysieren sind und nicht isoliert betrachtet werden dürfen, weil sonst Rückkoppelungseffekte und Abhängigkeiten nicht berücksichtigt werden können. Archetypen sind Kommunikationswerkzeuge, um die Dynamik eines Systems – hier eines Unternehmens – zu veranschaulichen, die Beschäftigung mit ihnen erhöht unsere Anpassungsfähigkeit

    4. Systemarchetypen und seltsame Attraktoren

    In neuerer Zeit wird die Sprache der Chaostheorie teilweise auf die Tiefenpsychologie angewandt, um Vorgänge in kritischen Situationen in der Nähe sog. Phasenübergänge mit diesem Begriffsapparat zu beschreiben (Rossi; Eenwyk; Card). Hierbei spielen vor allem die seltsamen Attraktoren eine Rolle, mit denen man die Dynamik eines rückgekoppelten Systems beschreibt, das zu einem »chaotischen« Verhaltensmuster »hingezogen« wird. Nicht-chaotische Systeme hingegen kehren nach einer Störung zu einem stabilen Zustand, einem Punktattraktor oder einem Grenzzykel, zurück. Verändert sich die Anzahl oder die Struktur eines Attraktors in einem System »plötzlich«, so spricht man von einer Bifurkation oder Verzweigung. Durch diese Verzweigungen werden Phasenübergänge beschrieben. Wendet man diesen Begriffsapparat auf (System-)Archetypen an, so lassen sich diese als Elemente eines chaotischen Systems veranschaulichen. Unter dem Einfluss äußerer Faktoren können sich die Zustände verzweigen und zu seltsamen Attraktoren konstellieren. Wie der zeitliche Verlauf eines dynamischen Systems durch Bifurkationen plötzlich verändert wird, so unterbricht die Konstellation eines Archetyps den scheinbar linearen Fluss des Bewusstseins (Eenwyk, S. 107) und damit auch des Handelns und führt zu plötzlich auftretenden starken Emotionen. Seltsame Attraktoren und Systemarchetypen scheinen also ähnliche Verhaltensweisen eines Systems zu beschreiben, in denen sich tiefgehende Ordnungen in scheinbar chaotischem Systemverhalten offenbart (Card, S. 282).

    Das Verhalten dynamischer Systeme nun mit der menschlichen Psyche gleichzusetzen, würde bedeuten, über das Ziel hinauszuschießen. Diese Form des Reduktionismus würde zu einem »geistigen Kollaps« (Card, S. 284), zu keinerlei neuen Erkenntnisgewinn führen. Wohl aber kann der Begriffsapparat helfen, das Verständnis für die Dynamik der Zustände etwa in einem Unternehmen zu erweitern und Einflussfaktoren rechtzeitig bereitzustellen. So mag es sinnvoll sein, in scheinbar verfahrenen Situationen die dabei Beteiligten hin zum Bifurkationspunkt zu drängen, damit sie die bequeme »stabile Gleichgewichtslage« verlassen und durch die dabei auftretenden Emotionen dynamische Energie für weiteres Wachstum zugeführt wird.

    5. Links

    • Bird, B.J. (1992): The Roman God Mercury: An Entrepreneurial Archetype. Journal of Management Inquiry 1: 205
    • Brown, W. (2002): The System Archetypes; www.uni-klu.ac.at/~gossimit/pap/sd/wb_sysarch.pdf
    • Card, C. (2004): The emergence of archetypes in present-day science and their significance for a contemporary philosophy of science; in: Mind in Time. New Jersey, Hampton Press.
    • Eenwyk, J. R. (1997): "Archetypes as Strange Attractors", Toronto, Inner City Books.
    • v. Franz, M.-L. (1992): The Hypothesis of the Collective Unconscious; in: Papadopoulos, R. K. ed.: Carl Gustav Jung – Critical Assessments. London, Routledge.
    • v. Franz, M.-L. (2005): Archetypische Dimensionen der Seele. Einsiedeln, Daimon Verlag.
    • B. v. Guretzky (2010): Wissensmanagement 3.0; http://www.community-of-knowledge.de/beitrag/wissensmanagement-30/
    • Jung, C. G. (2009): Archetypen. München, dtv.
    • Rossi, E. (1989): Archetypes as strange attractors. Psychological Perspectives, 20: 1, 4-15
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