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"Wir stehen an der Schwelle zu einer neuen Form des Wissensmanagements"
Interview mit Dr. Richard Straub, Senior Advisor des Chairman für IBM in Europa, dem Mittleren Osten und Afrika
01. Oktober 2010 von Dr. Richard StraubVom 12. bis 14. Oktober 2010 findet die Professional Learning Europe in Köln statt. Der Veranstalter sprach mit Dr. Richard Straub über Lernen im "Enterprise 2.0".
Herr Dr. Straub, der Begriff Web 2.0 geistert seit mehr als fünf Jahren durch alle Medien und ist im privaten Internetgebrauch zur Normalität geworden. Weit weniger verbreitet ist das „Enterprise 2.0“, der Einsatz von sozialer Software in Unternehmen, vor allem wenn es um das betriebliche Lernen geht. Woran liegt das?
Die Nutzung von Lerntechnologien in Unternehmen erfolgt nach anderen Gesetzen als auf freier Wildbahn. Viele Firmen sind in einer frühen Phase der Beschäftigung damit und manche haben sich noch gar nicht überlegt, was Enterprise 2.0 eigentlich bedeutet.
Wie würden Sie es definieren?
Enterprise 2.0 bedeutet, alle Formen das Web 2.0 im Sinne des Unternehmens intern zu nutzen. Damit sind dann auch die Strukturen gemeint und die Art, wie sich die Zusammenarbeit der Mitarbeiter dadurch verändert und wie neue Lernprozesse entstehen. Mitarbeiter vernetzen sich dabei jenseits von Hierarchien miteinander. Sie können sich nach Interessensgebieten, Spezialisierungen, Know-how oder Erfahrungen verbinden, ohne die Kontrolle des Managements. Das ist nicht zu verwechseln mit Web-2.0-Aktivitäten, die sich außerhalb des Unternehmens abspielen, selbst wenn die Übergänge fließend sind.
Welche externen Aktivitäten meinen Sie?
Denken Sie etwa an den Fall eines Qualitätsproblems mit einem neuen Produkt oder generell an die Frage der Beurteilung von Produkten durch die Benutzer. Da bilden sich schnell Communities, die sich darüber austauschen, Vorschläge zur Verbesserung machen oder auf Probleme hinweisen. Damit beschäftigen sich vor allem die Marketing-, Qualitäts- und Kommunikationsfachleute. Das ist aber eben ein anderes Gebiet als Web 2.0 intern zu verwenden. Das kann auch in die Richtung gehen, Innovationsprozesse neu zu gestalten, indem die Benutzersicht in einer sehr frühen Phase einbezogen wird. Dann ist auch das Enterprise 2.0 als Organisation betroffen. Dennoch verstehe ich unter dem Begriff im engeren Sinne das Web 2.0 innerhalb der Firewall.
Viele Unternehmen sind aber noch nicht so weit. War es berechtigt, dass die meisten in den vergangenen Jahren so zögerlich an die Thematik herangegangen sind?
Die Unsicherheit ist einfach groß, wie das Web 2.0 am besten für das Wissensmanagement und die Personalentwicklung eingesetzt werden kann. Zum einen ist das generationenbedingt, zum anderen haben die Betriebe auch in der Vergangenheit schon ziemliche Schwierigkeiten gehabt, neue Lerntechnologien einzuführen. Die Implementierung neuer Learning-Management-Systeme verlief beispielsweise nicht reibungslos und auch generell ließ sich der Anteil von E-Learning-Komponenten nicht so leicht erhöhen. Denn das sind komplexe Vorgänge, die nicht nur auf einer neuen Technik beruhen, sondern einer Kulturänderung bis hin zum Management bedürfen. In der Krise lässt sich aber jetzt eine rascheres Voranschreiten neuer Technologien beobachten. Doch bei Social Media sind wir noch nicht ganz. Unternehmen testen eher Instrumente wie Webinare, verschiedene Möglichkeiten von Web-Lectures oder kollaborative Technologien, mit denen Mitarbeiter gemeinsam Dokumente erstellen. Die Firmen holen also in den Basistechnologien ein bisschen auf.
IBM ist seit Jahren ein Vorreiter als Enterprise 2.0. Was würden Sie aus dieser Erfahrung heraus anderen Unternehmen raten, wie sie dabei am besten einen Schritt weiter kommen?
Es gibt kein Standardkonzept, denn jede Firma hat ihre Geschichte, ihre Kultur und ihre demografische Pyramide. Unternehmen, die bisher relativ wenig Technologie einsetzen, müssen natürlich genau überlegen, wie sie den Sprung schaffen. Andere sind wesentlich weiter, haben bereits Erfahrungen und können relativ rasch weitere Schritte umsetzen. Dennoch ist klar: Es beginnt nicht mit der Technologie. Das ist nur das Mittel. Gerade Technologieunternehmen, die im Allgemeinen sehr aktiv in der Implementierung von Social Media sind, glauben häufig die Technik sei das Allheilmittel.
Was müsste davor passieren?
Es müssen Entscheidungen im Management fallen und eine Antwort auf die Frage „Was ist unsere Managementphilosophie und Kommunikationspolitik?“ Wenn ich Web-2.0-Elemente zulasse, dabei aber eine sehr hierarchische und bürokratische Kommunikationspolitik habe, wird das nicht funktionieren. Die strategischen Fragen lauten: „Wie weit sind wir bereit, auf Managementkontrolle zu verzichten?“ „Und wie weit trauen wir den Wissensarbeitern zu, eigenständig zu agieren?“ Diesbezüglich hat sich durch die E-Mail schon einiges angebahnt, was Social Media noch einmal um eine Dimension verstärkt. Wenn wir das Beispiel IBM nehmen: Der Konzern versteht sich als Enterprise 2.0, hat aber auch eine klare Policy für die Nutzung von Web-2.0-Instrumenten herausgegeben. Man kann nicht einfach das Ganze auf die Mitarbeiter loslassen und sagen: „Jetzt macht mal.“ Die Mitarbeiter sollen wissen, was sie dürfen und was nicht.
Gibt es noch andere Kardinalfehler, die Unternehmen vermeiden sollten?
Viele Betriebe sind sich noch nicht im Klaren über die strategische Bedeutung des Lernens. Sie reiten oft noch auf der Traditionswelle Education und Training, in dem Sinne, dass sie ein Schulungscenter haben und ihre Mitarbeiter immer mal wieder da hin schicken. Vielleicht machen sie auch schon einen Teil online. Aber Lernen als strategische Funktion zu begreifen und sie in allen wesentlichen Unternehmensentwicklungen einzubeziehen – das ist der Knackpunkt. Selbst wenn es nicht um Social Media geht, ist die wichtigste Vorfrage für den Unternehmenserfolg: „Ist Lernen auch im formalen Sinne ein Bestandteil unserer strategischen Schwerpunkte?“ Dann fallen Entscheidungen völlig anders.
Wenn sich Unternehmen dann vorbereitet haben, wie können konkrete erste Umsetzungsschritte aussehen?
Es ist immer besser, erst einmal Erfahrung in überschaubaren Bereichen zu sammeln ehe man mit einer großflächigen gleichzeitigen Implementierung quer durch die Organisation beginnt. Die Unternehmen müssen erst testen, wie es im eigenen Umfeld funktionieren kann und aufgrund von solchen gezielten Piloten dann eine adaptierte Ausweitung vornehmen.
Und in dieser Pilotphase befinden sich derzeit die meisten Unternehmen?
Das ist abhängig vom Unternehmen, aber in der Tat ist es bei den meisten so. Es kristallisiert sich heraus, dass wir an der Schwelle zu einer neuen Form des Wissensmanagements stehen. Und das begreifen auch immer mehr Betriebe. Heute ist es wichtiger, Wissen zu generieren, verfügbar zu machen und in einer Organisation zu verteilen als etwas auf Vorrat zu lernen. Dabei hat die alte Form des Wissensmanagements weitgehend versagt. Mit Wissensdatenbanken war es nicht möglich, aktuelles Wissen schnell genug zu kodifizieren. Sie waren vielfach bereits tot bevor die Informationen darin ordentlich kodifiziert waren. Nun merken die Unternehmen, dass das Wissen dynamisch ist und sich in den Köpfen der Mitarbeiter sehr schnell weiterentwickelt. Das heißt, wer Technologien findet, mit denen er dieses Wissen sozusagen im Fluge anzapfen kann, gewinnt unheimlich viel. Und da kommt Social Media ins Spiel. Unternehmen überlegen sich, wie sie intern Communities bilden können. Man spricht nicht umsonst von einem Trend zu Personal Learning Networks. Die ursprünglichen Learning-Management-Systeme haben sich weiterentwickelt – sie bieten eine zunehmend personalisierte Lernumgebung für den Mitarbeiter. Und jetzt kommt der Netzwerkgedanke im Sinne von Social Media mit hinein.
Sie haben die Bedeutung von Wissensmanagement besonders hervorgehoben. Das hinterlässt den Eindruck, Lernen an sich gerate ins Hintertreffen.
Wenn Sie die Realität ansehen, so lernen Mitarbeiter 70 bis 80 Prozent von dem, was sie für die Arbeit brauchen, „on the Job“. Das heißt, sie lernen nebenbei über ihre Tätigkeit. Für die restlichen 20 Prozent muss es weiterhin formale Lernvorgänge geben. Der Anteil wird vermutlich auch in Zukunft vergleichbar bleiben. Das formale Lernen wird vielleicht zum Teil mehr auf E-Learning verlegt. Aber für bestimmte Prozesse, beispielsweise um ein neues Verkaufsverfahren oder neue Managementgrundsätze einzuführen, ist formales Lernen unumgänglich. Wissensmanagement ist für mich nahezu gleichbedeutend mit informellem Lernen. Nur dass das Ganze bewusster wird und wir durch die Technologieunterstützung in Communities of Interest Erfahrungen leichter teilen können.
In den vergangen Jahren haben Experten immer wieder den Durchbruch zunächst von E-Learning dann von Social Media propagiert. Warum sollte er gerade jetzt kommen?
Es gab in der Tat häufig euphorische Vorhersagen. Aber der Prozess ging immer sehr langsam. Denn manchmal bedeutet leading edge auch bleeding edge: Wer sehr früh in Prozesse einsteigt, die nicht ausgegoren sind, zahlt oftmals einen hohen Preis. Es gab große Projekte und Schulungsprogramme, bei denen es darum ging, die Inhalte nur noch elektronisch zu vermitteln und davon sind nicht wenige gescheitert. Doch jetzt hat die Technologie einen neuen Stand erreicht: Der Nutzen wird sichtbar – und zwar sehr rasch. Das Potenzial der Mitarbeiter können Unternehmen jetzt viel besser zur Geltung bringen. Außerdem werden Unternehmen Probleme haben, qualifizierte Nachwuchsmitarbeiter zu finden, wenn sie sich nicht zum Enterprise 2.0 entwickeln.
Was heißt das speziell für Personalverantwortliche?
Was wir mit dem neuen Kongress „Professional Learning Europe“ erreichen möchten, ist auch ein Wake-up-Call in ihre Richtung: Jetzt ist es extrem wichtig, dass HR in seine strategische Rolle tritt und diese Entwicklungen ernst nimmt. Wenn die Personalverantwortlichen nicht aktiv werden, wird eine andere Funktion im Unternehmen diesen Platz einnehmen.
Interview: Stefanie Hornung
- veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der spring Messe Management GmbH & Co. KG -
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